Natzwiller-Struthof

Kursfahrt zu dem Mahnmal

ANDREAS SCHEYDT

Es ist Dienstag, 8 Uhr morgens, und wir steigen gerade in unseren Exkursions-Bus. Wir, das ist die ganze 13. Klassenstufe des Gymnasiums Bad Bergzabern.

Eigentlich hätte es ein anstrengender Schultag werden sollen, aber heute fahren wir, angelehnt an unser Thema in Religion, zur Besichtigung eines ehemaligen Konzentrationslagers der Nazis. Konzentrationslager... Klingt nicht gerade nach einem lustigen Ausflug, aber nach allgemeiner Meinung besser als Schule.

An den meisten Gesichtern ist der "Vorfreude" auf eine stundenlange Busfahrt durch Frankreich mit dem Zweck, eine ausrangierte Tötungsfabrik zu begutachten, leicht abzulesen. Nachdem jeder seinen Platz gefunden hat, geht die Reise los, und die Landschaften ziehen an uns vorbei. Die Stimmung wechselt, die Musik wechselt...

Es werden Witze gemacht. Überall im Bus geistern Sätze wie ‚Jetzt werden wir deportiert‘ oder ‚Ob die uns da wieder raus lassen?‘ umher, die jeder heute schon mindestens einmal gehört hat, aber die trotzdem immer wieder irgend jemand nochmals wiederholen muß.

Es ist eng im Bus, und zwischen gelegentlichen Beschwerden und stellenweisem Gelächter mögen die Gedanken einiger in die Vergangenheit wandern. Wie DIE damals wohl DAHIN gekommen sind? Mit dem Zug? Schon von unserer Schule aus, nahe der Grenze, ist die Fahrt mit dem Bus eine Qual für den einen oder anderen, wie mögen die Menschen, die Opfer sich gefühlt haben? Mangels persönlicher Erfahrungen mit der kaum zu erahnenden quälenden Ungewißheit über die eigene Zukunft und der erstickenden Enge eines dunklen Zugabteils voller verzweifelter Menschen laufen alle höheren Gedanken schnell ins Leere und die Augen wandern in die Ferne.

Die Straßen werden freier, die Landschaft wird leerer und bergiger. Nach doch recht langer Fahrt arbeitet sich unser Bus schließlich eine lange, verschlungene Straße den bewaldeten Berg hinauf, nicht mehr weit von unserem Ziel entfernt. Dann endlich stoppen wir an einem Parkplatz und stürmen ungeduldig hinaus; die einen aus Mangel an Beinfreiheit, die anderen aus Mangel an Nikotin. Die Bergluft ist frisch und klar; im Gegensatz zu unseren milden Höhen schon recht kalt, wenn man bedenkt, daß es noch nicht wirklich Winter ist. Die meisten von uns haben inzwischen ihre Jacken aus dem Bus geholt. Wie haben die Gefangenen mit ihrer zerschlissenen Notbekleidung das nur ausgehalten?

Nach einem kurzen Weg rückt das Lagertor, das wir in den vergangenen Religionsstunden schon mehr als einmal gesehen haben in unser Sichtfeld. Bilder der langen Reihe lebender und toter Gefangener beim Appell werden  schnell verdrängt, und; der wunderbare Ausblick auf die umgebenden Berge und Täler fällt uns ins Auge. Das gleiche Bild von Freiheit, das schon die Gefangenen ständig vor sich hatten. Eine zusätzliche Folter, hieß es, sei dieser Anblick gewesen; wir empfinden ihn im Moment einfach nur als erfrischend und schön.

Das erste das wir vom Lager sehen ist links von uns ein Offiziershaus mit einem Swimmingpool davor, umrandet von dem sagenumwobenen Elektrozaun, in den einst Unschuldige Gefangene von Verrätern aus den eigenen Reihen hineingestoßen worden sein sollen.

Endlich wird uns auch Einlaß gewährt, und wir durchschreiten das mit Stacheldraht umrahmte Tor. Zwei parallele Reihe Stacheldrahtzaun mir einem Korridor in der Mitte bilden die Unüberwindbare Grenze zur Außenwelt. Kleine Keramikstücke am Zaun lassen erahnen, daß er ebenfalls früher unter Strom gestanden hatte. Das Lager besteht aus mehreren Rechteckigen Plateaus am abfallenden Hang des Berges. Bis auf 5 werden die Baracken nur noch durch flache Steine am Platz der äußeren Mauern repräsentiert.

Unser erstes  Ziel ist der Appellplatz, oder was wir dafür halten. Nahe der relativ gut eingerichteten Baracken für die Angestellten steht auf einer freien Fläche dekorativ hergerichtet ein Galgen mit Fallstuhl. Kaum vorzustellen, daß hier Menschen hingerichtet wurden, auf dem Boden auf dem wir gerade stehen. Die Stimmung wird jetzt zumindest bei einigen bedrückter, und die Frequenz der Witze läßt deutlich nach.

Danach wandern wir hinunter an das andere Ende des Lagers, wo noch zwei der Gebäude gut erhalten stehen. Das KZ ist überraschen klein, und wenn wir an die 6000 Menschen denken, die hier mal eingesperrt waren, können wir uns kaum vorstellen, wie sie hier alle untergebracht werden konnten. Hinter uns liegt das turmhohe weiße Denkmal an die Opfer des Holocaust. Der Himmel bewölkt sich zunehmend und erste Tropfen fallen auf unsere warmen Jacken. Wieder schaudern wir bei dem Gedanken an die Tausenden von Häftlingen, die hier hausten.￿￿￿]Krankheit Hunger und Kälte mochten den Mördern damals wohl die eine oder andere Kugel und Gasladung eingespart haben. Bald erkennen wir die Heizungsschächte neben den Zellen, die als Einzelzellen mißbraucht wurden. Sie sind zwar auf den ersten Blick größer als wir sie uns vorgestellt haben, aber keiner möchte wohl auch nur 10 Minuten darin verbringen, und es fällt schon schwer, im engen Raum für das heiß ersehnte Erinnerungphoto kurz auszuharren. Da sind die normalen Zellen schon viel geräumiger. Während die einen noch streiten, ob die Zellen für 16 oder 18 Menschen Platz bieten mußten, versuchen die anderen schon, sie mit einem halben Religionskurs richtig zu füllen, um eine Vorstellung von den Bedingungen hier zu bekommen. Im Stehen hat jeder genug Platz, aber wie konnte man hier wohl schlafen?

Mit diesen Überlegungen im Kopf geht es auch schon weiter; am Prügelbock vorbei aus dem Gebäude, und in Richtung des Nachbargebäudes: Dem Krematorium. Gerade durch den Eingang hineingekommen blickt man auch schon direkt auf den Einäscherungsofen. Darüber eine doch recht makabere Einrichtung: Der Boiler für das heiße Wasser der Angestelltendusche... direkt nebenan. Zwischen Ekel und dummen Witzen schwelgend erkunden wir weiter das Gebäude und stoßen auf den Sezierraum. Ein dreckiger Kacheltisch in der Mitte ist der stumme Zeuge der Greueltaten, von denen wir schon so viel gehört habe. Trotzdem ist alles weit weg. Keine Schreie, kein Todesgeruch, nur üble Visionen und aufflackernde Bilder die wir gleich wieder verdrängen. Dazwischen ein Raum voller Urnen... ein eher mildes Motiv.

Endlich wieder entlassen erfreuen wir uns am inzwischen weniger nassen Draußen und pilgern an einigen Gedenktafeln vorbei zurück zu den Angestellten-Baracken, wo heute die Ausstellung zu betrachten ist. Nach dem Anblick des Gefängnisses kommt uns diese Hütte schon fast luxuriös vor. Die Dinge die uns hier präsentiert werden sind zwar größtenteils nichts neues, aber nicht minder schockierend. Unglaublich viele zerstörte Leben, reduziert zu Zahlen, Diagrammen und Farbigen Punkten auf der Landkarte. Gewöhnliche Gegenstände aus dem unwirklichen Alltag dieser Zeit. Bilder von Hungernden, Sterbenden, Toten und schrecklichen Haufen aus zu Müll abgewerteten menschlichen Leichen. Unmenschliche Experimente, die keinen Sinn erkennen lassen außer der Erhöhung der Qualen ihrer Versuchsperson.

Die Ausstellung hat Mittagspause und wir ziehen weiter, zurück zum Bus. Es ist bedeutend ruhiger als bei der Hinfahrt. Viele sind nachdenklich, andere vielleicht nur erschöpft vom vielen stehen und umherlaufen. Den Berg hinab führt uns unsere Reise zur bekannten und beliebten Herberge Struthof, oder viel eher zur gegenüber liegenden ehemaligen Gaskammer. Das altbekannte Gefühl, nachdenken zu müssen, schleicht sich wieder an. Wie viele Unschuldige mögen hier ihr Leben gelassen haben?
Die Fenster sind abgedunkelt und wir können kaum hinein sehen, aber einige Lücken gewähren und einen Blick  auf die seltsame gekachelte Einrichtung, die etwas an ein heruntergekommenes Hallenbad erinnert. Ein letzter Blick auf die unwirkliche Existenz der ehemaligen Tötungsmachinerie, die nur wenige von uns zuvor mit eigenen Augen gesehen hatten.

Langsam schleichen wir zurück zum Bus, unsere Stimmung so gespalten wie am Anfang. Viele habe einfach nur das Gefühl, eine überflüssige Exkursion hinter sich zu haben, die nichts neues geboten hat. Andere fühlen sich schuldig, und dazu gedrängt, nachzudenken. Aber alle sind ruhiger als zuvor

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