Die Geschichte Israels

von Stefan Meißner


9. Das vorstaatliche Israel

9.1 Die Amphiktyoniehypothese

Literatur
M. Noth: Geschichte Israels, Göttingen, 10. Aufl. 1986 83ff.; A.H.J. Gunneweg: Geschichte Israels, S. 41
Volkmar Fritz: Biblische Enzyklopädie, 12 Bde., Bd.2, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr.: Bd. 2

Es war erneut Martin Noth, der das diffuse Quellenmaterial über die vorstaatliche Zeit Israels zu einer lange Zeit akzeptieren These zusammen fasste. In seinem 1930 erschienenen Buch „Das System der zwölf Stämme Israels“ behauptet er: Das vorstaatliche Israel war ein sakraler Zwölfstämmeverband (= "Amphiktyonie") mit einem Zentralheiligtum ("Bundeslade", hebr.: aron ha-kodesch) u. einem verbindlichen Amphiktyonenrecht (das sog. apodiktische Recht), über das die sog. ”Kleinen Richter” (siehe unten, unter 9.2.2.) wachten. Analogien sieht Noth in der bereits alttestamentlich bezeugten Zwölfzahl der Aramäer-, Ismaeliter- und Edomiterstämme (1 Mos 22,20-24; 25,13-16; 36,10-14). Aber auch deutlich späteres Material aus Griechenland und Italien führt er als Beleg für seine These von einem sakralen Verband von Stämmen an, die die kultischen Obliegenheiten reihum im monatlichen Wechsel versahen.

In den letzten Jahren hat sich Kritik an Noths Hypothese geregt. So kann von einem Zentralheiligtum angesichts der zahlreichen Jahwe-Heiligtümer im Land kaum die Rede sein. Auch Stiftshütte und Bundeslade spielen nicht die zentrale Rolle, die die ältere Forschung ihnen beilegte. So fasst H. Donner den Konsens der Forschung heute zutreffend zusammen: „Ein amphiktionisches Zentralheiligtum (...) hat es ebenso wenig gegeben wie den sakralen Zwölfstämmeverband selbst“ (H. Donner: Geschichte Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen, Bd.1, S.169).

Auch alternative Ansätze zur Deutung der Gesellschaftsstruktur des vorstaatlichen Israel, die an soziologische und ethnologische Modelle anknüpfen (Ch. Schäfer: ”Eidgenossenschft” bzw. ”regulierte Anarchie” oder F. Crüssemann: ”segmentäre Gesellschaft”) blieben nicht unwidersprochen. So wird man sich mit der Erkenntnis zufrieden geben müssen, dass wir in diesen Fragen immer noch recht wenig wissen.

9.2 Die Richterzeit


Simsons Kampf mit dem Löwen

Literatur
R. Bartelmus: Forschung am Richterbuch seit Martin Noth, ThR 56/1991, S. 221-259; M. Görg: Richter (NEB.AT 31), Würzburg 1993; R.G. Kratz: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, Göttingen 2000; W. Richter: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch (BBB 18), Bonn 2. Aufl. 1966

9.2.1 Das Geschichtsbild des Richterbuches
Das Richterbuch erzählt Heldensagen aus der vorstaatlichen Zeit, in denen sog. „Richter“ (hebr. schofetim) eine führende Rolle spielen. Ein Vergleich mit anderen semitischen Sprachen legt nahe, dass das hebr. Wort für nicht nur „richten“ meint, sondern ganz allgemein auch „herrschen“ oder „führen“. Diese Männer (es ist mit Debora auch eine Frau dabei!) führen Israel in Zeiten besonderer äußerer Bedrohung in den Krieg, um danach wieder ins zweite Glied zurückzutreten.

Dieses Geschehen wiederholt sich im Richterbuch mehrmals, wobei ein Schema zu beobachten ist, das nach dem Konsens der Forscher auf die deuteronomistischen Bearbeiter des Buches zurückzuführen ist: Abfall des Volkes – Bedrückung durch die Völker – Umkehr zu Jahwe – Hilfe – erneuter Abfall. Dieses idealtypische Schema ist sicher eine spätere Geschichtskonstruktion und so historisch nicht zuverlässig.

Was die Entstehung des Richterbuches angeht, so rechnet Wolfgang Richter mit einem im 9. Jhd. entstandenen nordisraelischen „Retterbuch“, das dann deuteronimistisch bearbeitet und mit einem Rahmen (Ri 2+10) versehen wurde. Das zyklische Geschichtsschema sei dem Vorbild von Ri 3,7-11 nachempfunden.

9.2.2 Große und kleine Richter
Man unterscheidet in der Forschung gerne mit M. Noth (Überlieferungsgeschichtliche Studien, 1950) zwischen großen und kleinen Richtern. Die großen Richter sind charismatische (d.h. geistbegabte) Heerführer mit zeitlich und geographisch begrenztem Wirkungsbereich. Zu ihnen gehören v.a. die folgenden Figuren, denen bedeutende Siege über die Nachbarvölker zugeschrieben werden:

Richter Bibelstelle Siege über
Otniel 3,7-11 Kuschan von Rischataim, Aram
Ehud 3,12-30 Moab
Schamgar 3,31 Philister
Barak und Debora 4-5 Sisera, dem Feldhauptmann
von König Jabin von Hazor
Gideon 6-8 Midianiter
Jiphtach 10,6-12,6 Moab und Ammon
Simson 13-16 Philister

Die „Kleinen Richter“ (10,1-5; 12,5-17) hingegen waren vermutlich eine Art Rechtsverwahrer und Streitschlichter. Vielleicht übernahmen sie auch Verwaltungsaufgaben, ziemlich sicher kam ihnen aber keine gesamtisraelitische Aufgabe zu (H. Donner: Geschichte Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen, Bd1, S. 173).

M. Noth vermutete, dass die deuteronimistischen Verfasser des Richter-Buches, angeregt durch das Beispiel Jiphtachs (Ri 12,7), der großer und kleiner Richter zugleich war, beide Ämter irrtümlich miteinander identifizierten.

S. Herrmann u.a. verzichten ganz auf die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Richtern. Die Mehrheit der Forscher behält sie aber weiter als Arbeitshypothese bei.

9.2.3 Die soziologische Gliederung Israels
Zur Zeit der Richter gab es in Israel eine Anzahl von Stämmen, die sich durch Blutsverwandtschaft verbunden fühlten. Diese Stämme setzten sich aus Familien (mischpachot) zusammen, die wiederum in Vaterhäuser (bet avot) unterteilt waren. Dadurch dass sich die einzelnen Stämme in bestimmten Gebieten festgesetzt hatten, entstanden geographische Grenzen. Wahrscheinlich hatte jeder Stamm seinen eigenen Führer, dessen Funktion in Friedenszeiten jedoch nicht bedeutsam war. Nur in Kriegszeiten bedurfte man eines kraftvollen Anführers, der auch imstande war, mehrere Stämme zu einem militärisch schlagkräftigen Verband zusammenzuschließen.

Arbeitshinweise
Barak und Debora
Über den Sieg Baraks und Deboras über Schlacht gegen Sisera (bzw. eine Koalition von kanaan. Königen), vermutlich Anf.11. Jhd. gibt es eine interessante Doppelüberlieferung. Vergleichen Sie in einer Tabelle die Heldensage (Ri 4) mit dem Deboralied (Ri 5)!
Interessante Details: Der Grund des Krieges liegt vermutlich in der Sperrung der Hauptverkehrswege durch die Kanaanäer (5,6). Beteiligt sind nur die unmittelbar betroffenen Stämme Israels (5,13-18), die Südstämme Juda u. Simeon werden gar nicht erwähnt!

Der Rahmen der Richtererzählungen
Erarbeiten Sie sich den deuteronimistischen Rahmen der Richtertexte anhand von Ri 1. Grenzen Sie dabei die einzelnen Teile des Schemas von einander ab!

Externe Links
http://www.bibelwissenschaft.de (Wibilex: Richterbuch)

Bildernachweis
Samson: http://www.uni-leipzig.de/ru/bilderhebraeischeBibel/