Stationen durch das jüdische Speyer

 

von Johannes Bruno und Eberhard Dittus

Eingang zum Ritualbad

 

Dieser Artikel basiert auf der Publikation: Johannes Bruno / Eberhard Dittus: Jüdisches Leben in Speyer. Einladung zu einem Rundgang. Haigerloch 2004. Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der beiden Autoren

 

Einleitung

Der Weg der jüdischen Gemeinde in Speyer war gekennzeichnet durch einen Wechsel von Glück und Unglück, von Wachstum und Zerstörung, von Wertschätzung und Verfolgung bis hin zur Vernichtung in der Zeit des Nationalsozialismus. Zerstörung, Verfolgung und Vernichtung haben ihre Ursachen in einem latenten Antijudaismus, dessen Ursachen vielschichtig sind.

Im Folgenden soll versucht werden eine kurze Darstellung der wichtigsten geschichtlichen Ereignisse aufzuzeigen und danach an 12 Stationen die Geschichte der Jüdischen Gemeinde von Speyer lebendig werden zu lassen.

Mit der Broschüre „Jüdisches Leben in Speyer“, die diesem Artikel zugrunde liegt, wollen wir die Verdienste der jüdischen Bürgerinnen und Bürger für ihre Heimatstadt würdigen und ihrer Opfer gedenken.

Die Ostwand der Speyerer Synagoge

 

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Speyer vom Mittelalter bis zur Neuzeit

Die erste jüdische Ansiedlung wurde 1084 außerhalb der Stadt auf Betreiben des Speyerer Bischofs Rüdiger Hutzmann gegründet und mit einer Mauer umgeben, um die Juden vor Übergriffen aus der Bevölkerung zu schützen. Im Jahre 1090 bestätigte und erweiterte Kaiser Heinrich IV. die Privilegien des Bischofs.

Bereits 1096 bestand in der Nähe des Domes eine weitere jüdische Ansiedlung. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen des Ersten Kreuzzuges waren die Speyerer Juden 1096 einer Verfolgung ausgesetzt, in deren Verlauf 11 Gemeindemitglieder ermordet wurden. Als Folge dieser Ereignisse zogen die Juden verstärkt in die Nähe des Domes. Dort errichteten sie ein neues Gemeindezentrum. Am 21. September 1104 konnten sie die neue Synagoge ihrer Bestimmung übergeben. Zur gleichen Zeit entstand das Ritualbad, die Mikwe. Die Gemeinde unterhielt eine Schule zur religiösen Fortbildung junger Gelehrter (hebr. Jeschiwa). Daneben gab es Schulen, die von einzelnen Rabbinen unterhalten wurden. So entwickelte sich Speyer zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit.

Namhafte Gelehrte, die so genannten "Weisen von Speyer“, unterrichteten angehende Rabbinen in Tora, Talmud und Kabbala. Ihre Absolventen wirkten später in bedeutenden Gemeinden, beispielsweise in Regensburg und Wien. Seit 1156 zählten die Rabbinen von Speyer mit ihren Kollegen in Worms und Mainz zu den religiösen Autoritäten in ganz Mitteleuropa. Die drei Gemeinden wurden sogar so berühmt, dass sie nach ihren hebräischen Anfangsbuchstaben als „SchUM-Gemeinden“ in die Geschichte eingingen.

Beim Zweiten Kreuzzug (1147-49) beklagten die Speyerer Juden „nur“ ein Todesopfer. Im Jahre 1195 wurden neun Gemeindeglieder getötet, als die Juden beschuldigt wurden einen „Ritualmord“ begangen zu haben. Die Gemeinde erholte sich rasch von den Schrecken dieser Verfolgung. Ihre Mitglieder – 300 bis 400 an der Zahl – betätigten sich weiterhin als Gelehrte, Kaufleute und zunehmend als Geldverleiher, weil ihnen die Ausübung bestimmter Berufe nicht erlaubt war. Eine Gruppe Speyerer Juden brach 1286 unter der Leitung von Rabbi Meir ben Baruch aus Rothenburg auf, um nach Erez Israel auszuwandern. Umgehend fielen ihre Güter König Rudolf von Habsburg zu.

Der Pogrom im Pestjahr 1349 beendete mit seinen Gräueltaten die Blütezeit der mittelalterlichen Judengemeinde in Speyer. Nach ihrer Wiederzulassung 1352 gehörten die Juden in die rechtliche Zuständigkeit der Stadt und fanden nie mehr zu ihrer früheren Bedeutung zurück. Nach mehrfachen Vertreibungen und Wiederzulassungen, Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten, sowie diskriminierenden Verordnungen des Speyerer Bischofs Matthias von Rammung im Jahre 1468 verlieren sich die Spuren der mittelalterlichen Judengemeinde in der Zeit um 1500. Bereits 1529 wurde Synagoge, Ritualbad und umliegende Gebäude als städtisches Arsenal genutzt.

Seit 1621 bestand wiederum eine Judengemeinde, die im Vorfeld des Pfälzischen Erbfolgekrieges 1688 vertrieben wurde. Im Verlauf des Krieges wurde Speyer von den Truppen Ludwigs XIV. in Brand gesteckt, wobei auch die ehemalige Synagoge zerstört wurde.

Im Gefolge der Französischen Revolution bildete sich 1797 unter dem Vorsteher Simon Adler die neuzeitliche Gemeinde. 1837 entstand wieder eine neue Synagoge in der Hellergasse. Von 1808 bis 1880 ist die Mitgliederzahl von 80 auf 539 angewachsen. Im Jahre 1888 wurde der Friedhof im St.-Klara-Kloster-Weg geschlossen und ein neuer Friedhof in der Wormser Landstrasse eröffnet, der auch heute noch erhalten ist.

In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 zerstörten die Nationalsozialisten die 1837 erbaute Synagoge. Am 22. Oktober 1940 wurden 51 Gemeindemitglieder in das Internierungslager Gurs/Südfrankreich deportiert. Damit hörte die neuzeitliche Gemeinde auf zu existieren. Erst 1996 konnten jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion die „Jüdische Gemeinde Speyer“ als Verein gründen.

 

1. Die Ruine der mittelalterlichen Synagoge und das Ritualbad

Unser Rundgang durch das Jüdische Speyer beginnt an historischer Stätte, inmitten der mittelalterlichen Innenstadtsiedlung. Zwischen „Judengasse“ und „Kleine Pfaffengasse“ steht die Ruine der mittelalterlichen Speyerer Synagoge, die vor mehr als 900 Jahren aus rötlichen Sandsteinquadern erbaut wurde. Vermutlich waren es Handwerker der Dombauhütte, wie verschiedene Bauelemente und Ornamente nahe legen. Der Bau misst 10,5 Meter in der Breite, 17,5 Meter in der Länge und ein hohes Giebeldach erhob sich darüber.

Vor der Ostseite stand in einer Nische der Schrein mit den kostbaren Torarollen. Vor der Mitte des 13. Jahrhunderts wurde an die Südwand ein Betraum für Frauen im gotischen Stil angebaut. Durch sechs kleine Öffnungen konnten die Frauen den Gottesdienst verfolgen. Während dieser Umbaumaßnahme wurde an der Ostwand der Synagoge, oberhalb des Rundfensters, ein größeres, gotisches Fenster eingesetzt, dessen Maßwerk heute zum Teil noch sichtbar ist. Die beiden romanischen Fenster seitlich des Rundfensters wurden durch spitzbogige Doppelfenster ersetzt.

Östlich der Synagoge liegt das Ritualbad (hebr. Mikwe). Es wurde zeitgleich mit der Synagoge erbaut und ist die früheste, größte und schönste noch erhaltene Anlage dieser Art in Europa. Im oberen Abschnitt des Treppenhauses sehen wir rechts und links Nischen mit Sitzbänken, die als "Wartezimmer" dienten. Die unterschiedlich hohen Stufen sollten dazu einstimmen, die Anlage "mit Bedacht" zu nutzen. Im Vorraum öffnet sich links die Aus- und Ankleidekammer und rechts führt im Halbkreis eine Treppe zum Badebecken hinab.

Das Bad diente der rituellen Reinigung. Die Männer nahmen das Bad einmal wöchentlich, die Frauen mindestens einmal im Monat nach der Regel, außerdem vor der Hochzeitsnacht und nach der Entbindung eines Kindes, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Für die Benutzung der Anlage gab es nach Geschlechtern getrennte Zeiten. Das Bad hatte auch praktische Auswirkungen im Alltagsleben: Juden waren bei Krankheiten und Seuchen abgehärtet und erfreuten sich infolgedessen einer längeren Lebenserwartung.

 

Bronze-Plastik von Wolf Spitzer:
"Rheinischer Jude"

An der angrenzenden Mauer ist eine Gedenktafel angebracht, die an die Judenpogrome in Speyer erinnern soll. Die Tafel wurde am 8. November 1968 durch beide Speyerer Kirchenleitungen – der Protestantischen Kirche der Pfalz und dem Bistum Speyer - enthüllt.


2. Juden und Christen

Unser Weg führt durch die Kleine Pfaffengasse zum Domplatz. Hier soll an das Verhältnis zwischen Juden und Christen erinnert werden, das oft schweren Belastungen ausgesetzt war.

Hierbei muss an die Pogrome erinnert werden, die neben wirtschaftlichen und sozialen Missständen auch ihren Nährboden auch in einem religiösen Antijudaismus hatten. Zu den Kirchenführern, die aus ihrer antijüdischen Gesinnung keinen Hehl machten, zählte auch der Speyerer Bischof Matthias von Rammung. Dieser stellte im Jahre 1468 einen Forderungskatalog auf, der das Leben der jüdischen Bevölkerung stark einengen sollte.

Im Zusammenhang mit antijüdischen Äußerungen ist auch an Martin Luther zu erinnern, der in seiner späteren Lebensphase Schriften verfasste, die während der Nazidiktatur missbraucht wurden, um die Judenverfolgung zu rechtfertigen.

Zu erinnern ist hier andererseits auch an Kirchenführer, die den Juden wohl gesonnen waren, wie der bereits erwähnte Bischof Rüdiger, auf dessen Initiative die Gemeindegründung zurück geht, oder Bischof Johannes, der im Jahr 1096 beim Ersten Kreuzzug den Juden in seiner Burg Schutz und Zuflucht angeboten hatte.

Bernhard von Clairvaux, hatte im Jahr 1146 durch seine Predigten im Speyerer Dom wesentlich dazu beigetragen, dass der 2. Kreuzzug zustande kam.

3. Dr. Edith Stein

Das Kloster St. Magdalena war für einige Jahre Wohnstätte von Edith Stein. Als Jüdin am 12. Oktober 1891 in Breslau geboren, konvertierte sie 1922 zum Katholizismus und lies sich im südpfälzischen Bergzabern taufen. 1933 trat sie in den Orden der Karmeliterinnen ein. Am 9. August 1942 wird sie im KZ Auschwitz ermordet.

Bereits 1930 – zu dieser Zeit lebte sie hier im Kloster als Lehrerin - erkannte sie die Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausging. In der so genannten „Befreiungsnacht“ vom 30. Juni auf den 1. Juli 1930 erlebte sie den Abzug des französischen Militärs aus Speyer und den Einzug der bayrischen Schutzpolizei.

Einer Ordensschwester gegenüber äußerte sie sich nach der mitternächtlichen „Befreiungsfeier“ mit folgenden Worten: „Sie werden erleben, jetzt kommt eine Judenverfolgung, dann eine Kirchenverfolgung!“ Im April 1933 schrieb sie einen Brief an Papst Pius XI, der erstmals im Februar 2003 veröffentlicht wurde. In dem Brief forderte sie Papst Pius auf, zu den Entwicklungen in Deutschland nicht zu schweigen: „…Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich „christlich“ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe.“
Edith Stein wurde 1998 von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen.


4. Dr. Adolf David

Dass jüdische Bürger die Geschichte der Stadt Speyer durch viele Jahrhunderte prägten ist unbestritten. Hier vor dem Rathaus soll an jüdische Bürger erinnert werden, die politisch engagierten und sich in besonderer Weise für das Allgemeinwohl der Stadt Speyer eingesetzt haben. Stellvertretend sei an Dr. Adolf David erinnert, der von 1869 bis 1874 ein Mandat als Stadtrat hatte. Er wohnte in der Schustergasse 8 und gehörte als Sohn des Ledergroßhändlers und Synagogenvorstehers Karl David zu einer der angesehensten Familien in Speyer. Am 29. August 1830 in Speyer geboren, wuchs er mit zwölf Geschwistern auf. In Würzburg studierte er Medizin und ließ sich danach als Arzt in seiner Heimatstadt nieder. Vornehmlich von der ärmeren Bevölkerung, die er auch unentgeltlich behandelte, wurde er geschätzt. Besondere Verdienste erwarb er sich bei der Bekämpfung der Cholera-Epidemie 1872?73.

Er hatte ein Herz für Kinder. Um ihnen eine sorgfältige Erziehung angedeihen zu lassen, gründete er in der Karmeliterstraße 20 einen Fröbelverein mit einem Kindergarten. Dr. Adolf David verstarb am 24. Mai 1904 in Heidelberg. Seine Urne wurde auf dem jüdischen Friedhof in Speyer beigesetzt.


5. Bücherverbrennung der Nationalsozialisten

Der Weg durch das jüdische Speyer führt uns in der Maximilianstrasse weiter bis zum „St.-Georgs-Brunnen“. In Bereich zwischen Brunnen und Rathaus hat ein Ereignis stattgefunden, das als so genannte „Bücherverbrennung der Nationalsozialisten“ in die Geschichte einging. Während diese Bücherverbrennung in vielen Städten des Deutschen Reiches am 10. Mai 1933 statt fand, brannten in Speyer die Bücher bereits am 6. Mai 1933, am „Tag der bayrischen Jugend“. Jugendverbände und die „Hitlerjugend“ mussten teilnehmen und wurden aufgefordert, die Bücher unter Ausrufung so genannter „Feuersprüche“ auf den Scheiterhaufen zu werfen. Opfer der Flammen wurden hier nicht nur die Schriften von Autoren, die den Wertvorstellungen der Nationalsozialisten nicht entsprachen, darunter auch zahlreiche jüdische Schriftsteller.


6. „Arisierung“
(= Jüdische Besitzer mussten ihre Geschäfte an Deutsche „Arier“ verkaufen.)

Suchen wir heute nach Spuren der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde, finden wir vor allem ihre, zum Teil noch sehr gut erhaltenen, Wohn? und Geschäftshäuser. Allein auf der Maximilianstrasse hatten bis zur Machtergreifung der Nazis gut ein Viertel der Geschäfte jüdische Besitzer. Die so genannte „Arisierung“ begann bereits am 1. Aproil 1933 mit dem Boykott-Aufruf gegen jüdische Geschäfte. Vom Dom ausgehend, sind u.a. zu erwähnen:

Die Geschwister Blumenthal betrieben in der Maximilianstrasse 15 ein Geschäft für Damenkonfektion. Als sich die 33jährige Franziska Blumenthal im Juli 1912 mit dem gleichaltrigen Karl Hirsch aus Mühlheim/Ruhr vermählte, vertraute sie ihrem Mann die Leitung der Firma unter dem Namen "Blumenthal" an. Zu Beginn der Nazidiktatur übernahm Karl Hirsch die Stelle des Bezirksvertreters der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland". 1938 wurde er nach Dachau und 1942 mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert, wo beide umkamen.

In der Maximilianstraße 30 betrieb Leopold Klein ein Schuhgeschäft, das zu den elegantesten in Speyer zählte. Leopold war Gemeindevorsteher und starb bereits 1934. Seine Frau Antonie wurde 1942 mit dem letzten Judentransport in den Osten verschleppt. Einen Teil seiner Waren bezog Leopold aus der Speyerer Schuhfabrik Roos. Die von dem jüdischen Fabrikanten Bernhard Ross 1910 erbaute Anlage beschäftigte bis zu 600 Menschen. Damit war Bernhard Roos zu jener Zeit einer der größten Arbeitgeber der Stadt Speyer. Am 31. Dezember 1912 starb er in Mannheim im Alter von 72 Jahren. Die Schuhfabrik erbten die Söhne Eugen, Karl und August, bis sie im Jahre 1935 „arisiert“ wurde.

In der Maximilianstrasse 78 betrieb Leopold Süssel, Mitglied der "Freien Metzgerinnung", eine koschere Metzgerei. Er stammte aus einer Metzgerfamilie und war mit Metzgerfamilien verwandt. Sein Sohn Julius ist 1914 als Soldat gefallen. Seine zweitjüngste Tochter Amalia heiratete 1921 den Metzgermeister Hermann Bonem, der das Geschäft seines Schwiegervaters weiterführte, bis er mit seiner Familie nach Chicago auswanderte.

Adolf und Mathilde Moritz führten in der Maximilianstrasse 71 ein Geschäft mit Damenkleidung. Adolf Moritz verstarb bereits 1925. Nachdem das Geschäft dann 1936 "arisiert" wurde, wählte Mathilde Moritz am 2. Januar 1937 mit 72 Jahren den Freitod. Ihr Stiefsohn Georg, Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, folgte ihr 16 Tage später mit nur 56 Jahren.

In der Maximilianstrasse 68 betrieb Lazarus Scharff eine Kolonialwaren-Großhandlung. Würzige Gerüche erfüllten seinen Laden, von dem mehrere Geschäfte in der Stadt und im Umkreis ihre Waren bezogen. Sein engster Mitarbeiter und designierter Nachfolger, der Prokurist Theodor Fischer, hatte 1938 den Laden übernommen. Lazarus Scharf, stadtbekannt für seine Wohltätigkeit im Verborgenen, starb 86jährig am 10. November 1940 im Internierungslager Gurs in Südfrankreich.

Die Geschwister Julius und Lina Altschüler führten in der Maximilianstrasse 61/62 ein Textilgeschäft, das sich seit drei Generationen im Familienbesitz befand. Julius Altschüler war ein Wohltäter im Verborgenen und ein Mäzen in der Öffentlichkeit: häufig wechselte das Gemälde eines Jungkünstlers gegen Stoff den Besitzer. Im Februar 1939 emigrierte Julius nach London. Lina fiel im Dezember 1940 einer Ruhrepidemie im Lager Gurs zum Opfer. Im Januar 1948 kehrte Julius nach Speyer zurück, wo er als einziger jüdischer Heimkehrer im Juli 1954 starb.

In der Wormser Strasse 8 übernahm Betty Blum, Tochter des Eisenwarenhändlers Moritz Blum, 1919 die Leitung der Eisenwarenhandlung. Davor hatte sie als Hilfslehrerin an der "Höheren Töchterschule" gewirkt. Sie engagierte sich kommunalpolitisch bei der Deutschen Demokratischen Partei. Zuletzt wohnte sie in der "Villa Rosenstein", Landauerstraße 60.

Ab 1. Januar 1936, als ihr Geschäft „arisiert“ wurde, betrieb sie ihre Auswanderung zu ihrer Schwester Lisa nach Afrika. Jedoch eine misslungene Operation vereitelte ihre Pläne. Sie starb im Sommer 1936 in den Städtischen Krankenanstalten in Ludwigshafen und fand ihre letzte Ruhe auf dem jüdischen Friedhof in Speyer.

In der Wormser Strasse 32 betrieb Berthold Böttigheimer als leidenschaftlicher Motorradfahrer und Autosportler ein Geschäft für Autoersatzteile. Die Nationalsozialisten zwangen ihn, den Laden aufzugeben.

Zunächst schlug er sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten im Vertrauen auf seine "arische" Frau, Helene Naas, durch. Am 7. November 1943 tauchte er unter. Acht, mit ihm befreundete, nichtjüdische Familien hielten ihn versteckt und trugen damit zu seinem Überleben bei. Er ist am 10. Januar 1980 verstorben.


7. Amtsgericht und Gefängnis

Unsere nächste Station ist das Amtsgericht mit dem dazugehörenden Gefängnis in der Wormser Strasse. Gleich nach der Machtübernahme der NSDAP wurde deutlich, dass im System des Nationalsozialismus beide Gebäude eine wichtige Funktion hatten.

So wurden im Gefängnis Mitglieder insbesondere der SPD und der KPD, aber auch Zentrums-Mitglieder oftmals ohne besondere Gründe gefangen gehalten. Zunehmend wurde das Gefängnis für viele nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in eines der Konzentrationslager.

8. Gedenken für Kriegsopfer

Östlich des Neubaus der Kreis- und Stadtsparkasse finden wir eine Gedenkplatte zu Ehren der im Ersten Weltkrieg Gefallenen Absolventen der Speyerer Realschule. Sie enthält 48 Namen, darunter auch fünf Namen Speyerer Juden, die „für Kaiser und Vaterland gefallen“ sind.

Am 20. Oktober 1922 wurde diese Tafel aus hellem Sandstein innerhalb des Schulgeländes angebracht. So entging sie der Zerstörung während der Nazidiktatur.

9. Jakobsbrunnen

 

Eberhard Dittus bei einer Führung vor dem Jakobsbrunnen

Unser Weg führt uns über die Maximilianstraße in die Heydenreichstraße. Dort stoßen wir auf den Jakobsbrunnen. So benannt, wegen des eingemeißelten Reliefbildes, das "Jakobs Traum von der Himmelsleiter“ darstellt. Eine Bürgerinitiative sammelte 1929 Geld für diesen Brunnen, weil der alte Brunnentrog einem Brand zum Opfer gefallen war. Das Grundstück hatte der jüdische Kaufmann Eugen Altschüler der Stadt gestiftet. Die Brunnenanlage wurde durch den Bildhauer Ludwig Kern restauriert und am 7. Juli 1929 feierlich enthüllt. Die Ursprünge des Brunnens gehen – laut Speyerer Urkundenbuch - bis in das Jahr 1319 zurück.


10. Gedenkstein für die Synagoge und Opfer der jüdischen Gemeinde

Unser Rundgang durch das Jüdische Speyer endet unweit vom Jakobsbrunnen, in der Hellergasse, am Standort der letzten Speyerer Synagoge. Diese wurde, wie viele andere Synagogen in Deutschland in der Nacht zum 10. November 1938 ein Raub der Flammen.

Die durch die Nationalsozialisten in Brand gesteckte Synagoge wurde 1837 im maurischen Stil nach Plänen des Architekten August von Voit erbaut. Für Männer waren 170 und für Frauen auf der Empore 90 Sitzplätze vorgesehen. Nach dem Brand der Synagoge versammelte sich die Gemeinde zum Gottesdienst in der Herdstrasse 3.

Heute erinnert an den Standort der Synagoge eine Bronzetafel, die am 9. November 1978 enthüllt wurde.

„HIER STAND DIE SYNAGOGE DER JÜDISCHEN GEMEINDE SPEYER BIS ZUR ZERSTÖRUNG DURCH DIE NATIONALSOZIALISTEN IN DER NACHT VOM 9. ZUM 10. NOVEMBER 1938“.

Vor der Bronzetafel steht ein Mahnmal aus dem Jahre 1992. Es besteht aus fünf Platten aus Basaltlava mit Davidstern und Inschrifttafel. Das Mahnmal symbolisiert die durch die Naziverfolgung zwar aus den Fugen geratene, doch nicht untergegangene europäische Judenheit. Namentlich möchten wir hier an die Frauen und Männer erinnern, die auf Befehl der Gauleiter Wagner und Bürckel zusammen mit über 6500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland am 22. Oktober 1940 mit 7 Zügen ins südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert wurden. Einige starben bereits auf der Fahrt, andere in Gurs und den umliegenden Lagern. Die Überlebenden wurden ab 1942 nach Auschwitz und andere Vernichtungslager deportiert und sind dort umgekommen.
Todesopfer der „Oktoberdeportation“: Max Adler, Selma Adler, Lina Altschüler, Frieda Beisinger, Bernhard Böttigheimer, Selma Böttigheimer, Wolf Böttigheimer, Hugo Elkan, Lucie Elkan, Benjamin Grünberg, Erna Grünberg, Anna Haber, Ludwig Haber, Juliane Herz, Sally Katz, Trude Katz, Ernst Kling, Ruth Kling, Albert Mayer, Anna Mayer, Ernst Mayer, Friedrich Mayer, Sara Mayer, Albert Mühlhauser, Klara Mühlhauser, Marie Mühlhauser, Aron Reichenberg, Ernst Reichenberg, Friederike Reichenberg, Lina Rosenthal, Lazarus Scharff, Mathilde Schiff, Wilhelm Schiff, Klara Seligmann, Sofie Siegel, Eduard Weil. Überlebende der „Oktoberdeportation“: Eduard Adler, Moses Böttigheimer, Mina Böttigheimer, Liselotte Böttigheimer, Albert Elkan, Trude Elkan, Klara Elkan, Heini Grünberg, Margit Grünberg, Max Herz, Helena Hildesheimer, Bernhard Katz, August Mayer, Lina Metzger, Elisabeth Kling. (Quelle: Landesarchiv Rheinland Pfalz, Dokumente des Gedenkens, Listen der am 22. Oktober 1940 aus der Pfalz nach Gurs deportierten Juden, Koblenz 1974)


11. Trauerhalle

Wer etwas mehr Zeit hat und den Weg von etwa 3 Kilometern nicht scheut, kann den Israelitischen Friedhof in der Wormser-Landstrasse aufsuchen. Auf dem Weg dorthin findet er noch ein weiteres Kleinod jüdischer Kultur, die Trauerhalle des alten jüdischen Friedhofs im St.-Klara-Kloster-Weg, die alle Zeitumstände überdauert hat.

Der kleine, niedrige Bau aus roten Sandsteinquadern neben dem Haus Nr. 10 grenzt im Osten an die alte Stadtmauer. Zwei Säulen tragen im Innern die Dachkonstruktion. Seit 115 Jahren hat diese Trauerhalle ihre Funktion eingebüßt. Sie bleibt jedoch ein unscheinbarer Zeuge ehemaligen jüdischen Lebens in der Domstadt.


12. Israelitischer Friedhof

Der Israelitische Friedhof an der Wormser Landstraße, bei der Südmauer der städtischen Friedhofsanlage, stellt eine Oase der Stille dar.

Sehenswert sind die alten, verwitterten, teilweise beschädigten oder fast im Erdboden eingesunkenen Grabsteine der jüdischen Gemeinde. Ihre Mitglieder fanden hier zwischen November 1888 und Juli 1940 ihre letzte Ruhestätte. Viele von ihnen haben durch ihre Leistungen Speyerer Stadtgeschichte mitgeschrieben.

So ist dieser Friedhof, der die Nazizeit glücklicherweise überstanden hat, ein einzigartiges Kulturdenkmal, das Zeugnis von einer ehemals lebendigen jüdischen Gemeinde ablegt, das es für nachfolgende Generationen zu bewahren gilt.

Kurze Zeittafel

1084 Gemeindegründung unter Bischof Rüdiger Hutzmann
1096 1. Kreuzzug (1096-99)
1096 1. Pogrom in Speyer, Errettung durch Bischof Johannes
1096 Beleg über die Existenz einer Synagoge
1103 Mainzer Landfrieden unter Kaiser Heinrich IV.
1104 Fertigstellung der der mittelalterlichen Innenstadt-Synagoge
1128 Erstmalige Erwähnung des Ritualbades
1147 2. Kreuzzug (1147-49)
1189 3. Kreuzzug (1189-92)
1195 Ritualmord-Pogrom
1223 Die Rabbiner-Synode tagt in Speyer
1250 Mose von Speyer, Stammvater der späteren italienischen Druckerfamilie Soncino
1286 Auswanderungswelle nach Erez Israel unter Rabbi Meir ben Baruch
1349 Pest-Pogrom
1352 Wiederzulassung der Juden in Speyer
1468 Antijüdischer Forderungskatalog von Bischof Matthias von Rammung
Um 1500 Ende der mittelalterlichen Judengemeinde
1621-1688 Die 2. jüdische Gemeinde in Speyer
1791 Aufbau der 3. jüdischen Gemeinde in Speyer
1827 Bildung von 4 pfälzischen Bezirksrabbinaten
1837 Fertigstellung der Synagoge in der Hellergasse unter Karl David (Gemeindevorsteher)
1880 Die jüdische Gemeinde zählt 539 Mitglieder (Höchststand)
1888 Schließung alter Friedhof, St-Klara-Kloster-Weg; Eröffnung neuer Friedhof, Wormser-Landstraße
1917 Gründung des Verbandes der Israelitischen Kultusgemeinden der Rheinpfalz
1933 Beginn der Verfolgung durch die Nationalsozialisten
1938 Vom 9. auf 10. November wird die Synagoge in Brand gesteckt
1940 Deportation der pfälzischen Juden nach Gurs am 22. Oktober
1996 Gründung der „Jüdischen Gemeinde Speyer“ als e.V.


Literatur zur Geschichte der Juden in Speyer:

Jüdisches Leben in der Pfalz. Ein Kultur-Reiseführer
Herausgegeben von Bernhard H. Gerlach und Stefan Meißner
Speyer 2013, Kap. 2

- Bruno, Johannes/Möller, Lenelotte: Der Speyerer Judenhof und die mittelalterliche Gemeinde, Verkehrsverein Speyer (Hrsg.), Speyer 2001
- Bruno, Johannes: Schicksale Speyerer Juden 1800 bis 1980, Schriftenreihe der Stadt Speyer, Bd. 12, Speyer 2000

- Johannes Bruno: Die Weisen von Speyer oder Jüdische Gelehrte des Mittelalters an der hiesigen Talmudschule, Speyer 2004
- Fandel, Thomas: Konfession und Nationalsozialismus, Paderborn/München 1997
- Historischer Verein der Pfalz, Bezirksgruppe Speyer (Hrsg.): Geschichte der Juden in Speyer. Speyer 2.Aufl. 1990
- Stein, Günter: Speyer- Judenhof und Judenbad, Große Baudenkmäler, Heft 238, München/Berlin 1996
- Transier, Werner: Städtisches Judentum des Mittelalters am Beispiel der Gemeinde von Speyer. Vierteljahresheft des Verkehrsvereins Speyer, Speyer 1996

Weitere Informationen und Führungen:
Tourist-Information: Tel. 06232-142392
Verkehrsverein: Tel. 06232-620490
Judenbad: Tel. 06232-291971
Historisches Museum der Pfalz (Judaika-Abteilung): Tel. 06232-13250, www.museum-speyer.de

Die Broschüre von Bruno und Dittus, die diesem beitrag zugrunde liegt, ist im Handel erhältlich
oder direkt zu beziehen bei der:
Arbeitsstelle Frieden und Umwelt der Evangelischen Kirche der Pfalz
Große Himmelsgasse 3, 67346 Speyer, Tel. 06232-671617, Fax: 671567
email: dittus@frieden-umwelt-pfalz.de

 

Interne Links
Über die Mikwe
Über die Synagoge

 

Externe Links
Der Judenhof
http://www.verkehrsverein-speyer.de/judenhof

Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz
Informationen über die jüdische Gemeinde der Rheinpfalz, sowie die neue
Synagoge Beith Schalom finden Sie unter: www.jkgrp.de

Jüdische Gemeinde Speyer
1996 von Emigranten aus der ehemal. Sowjetunion gegründete Gemeinde
www.jgs-online.de/

Historisches Museum Speyer
Unweit des Domes, mit vielen Exponaten zur jüdischen Geschichte
www.museum.speyer.de/

Der Judenhof in Speyer
www.verkehrsverein-speyer.de/judenhof

Grabsteine des alten jüdischen Friedhofes Speyer

www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat?function=Inf&sel=spy