Die Toleranz und das Eigene
Überlegungen zum Dialog der „monotheistischen“ Religionen

von Klaus Beckmann


Synagoge in Mannheim

Blaue Moschee in Istanbul

Dom zu Speyer

I. Das Andere fordert heraus
Das Andere fordert heraus. Es stellt die eigene Position in Frage. Um so kritischer empfinde ich das Andere, je mehr Momente des Eigenen ich darin wiederfinde. Verwandtes provoziert durch Widerspruch stärker als das ganz und gar Exotische. Gehen wir einmal zweitausend Jahre zurück und betrachten wir die Koexistenz der „monotheistischen“ Religionen zur Zeit der Entstehung des Christentums. Von ihrer ersten Stunde an ist die Christenheit vom Anderen, das ihr doch aufs Engste verwandt war, herausgefordert worden. Ausgerechnet diejenigen nämlich lehnten in der Mehrheit das christliche Bekenntnis zu Jesus als dem Messias Gottes ab, die das Zeugnis von jenem Gott „besaßen“ und es durch die Jahrhunderte überliefert hatten. Die Juden, die vom Herrn wussten und von der Geschichte Abrahams, Isaaks und Jakobs, Moses und Davids, die das Gedächtnis bewahrten von dem Gott, der den Christen der Vater Jesu ist, sagten: Dieser ist nicht der verheißene Erlöser Gottes. Denn die Welt ist nicht erlöst. Die Christen, eine kleine, verfolgte Gruppe mit Anspruch auf die Kompetenz zur Rettung aller Welt, verübelten den Juden, dem Volk der Bibel, ihre Distanz zur frohen Botschaft. Für die Christen war jetzt alles erfüllt, das Reich Gottes angebrochen. Im Glauben, im Geist, sollte wahr sein, was die Propheten versprochen hatten. Juden aber fragten: Wo sind die Lahmen, die gehen, die Blinden, die sehen, die Armen, denen das Evangelium mehr ist als Wortgeklingel? Juden maßen die christliche Botschaft ganz irdisch an der verheißenen Zukunft und kamen zum Befund, dass es das ja wohl nicht gewesen sein konnte. Mehr göttliches Handeln, mehr greifbare Zukunft musste eintreten, bis das versprochene Ende da sein würde.
So entsteht Hass unter Geschwistern. Der Erfüllungseifer Frischbekehrter reibt sich an der Skepsis der im Gottesbund Herangewachsenen. Beansprucht und vorenthalten werden da die Größen „Gott“, „Wahrheit“, „Entscheidungszeit“. Glaube wird nun einmal gelebt und erzählt, nicht vorgerechnet und bewiesen. Darum ist er nicht mit Zureden und Zwang übertragbar. Wo es da einer überernst meint in seinem missionarischen Drang, erfährt er Zweifel und Zurückweisung. Das schmerzt aber am meisten bei denen, die mit ihm Überlieferung teilen. Das jüdische Nein zum Messias Jesus, das uns Christen Ermahnung hätte sein können, an einer Zukunft mitzuarbeiten, in der Recht und Gerechtigkeit zusammenrücken, wurde Anlass für Ausgrenzung und Verfolgung. In ihrem Beharren auf dem Irdischen sind die Juden lebendiges Mahnmal dafür, dass die große Ankunft Gottes noch aussteht, dass mit der Kirche das ewige Reich nicht endgültig gekommen ist und wir Menschen auf unendlich Besseres hoffen dürfen, als wir jetzt kennen. Das Neue Testament selbst schließt mit der Bitte: „Komm, Herr Jesus!“ Christliches Erfüllungsbewusstsein aber verdrängte das „Bis Du kommst in Herrlichkeit“ und zwang das jüdische Nein in den Konflikt. Wir haben den Juden die glaubensfördernde Erinnerung nicht gedankt. Denn ihre an die prophetische Botschaft gebundene Einrede unterlief den irdischen Machtanspruch der Kirche, der auf dem spirituellen Erfüllungspostulat basierte. Sie waren uns Störenfriede, bald Zersetzer der Einheit, bald universale Drahtzieher des Bösen auf dieser Erde. „Ihrer“ Bibel zahlen wir es bis heute moralisch heim, dass vor ihr die christliche Erfüllungsbehauptung fraglich wird: Bei Nachrichten von besonderer Grausamkeit sind die Medienmacher sofort mit dem Attribut „alttestamentarisch“ zur Stelle, auch wenn die Akteure Christenmenschen sind. Bis in den hysterischen Umgang mit dem Nahost-Konflikt hinein, wo nicht Kritikables nach politischer Vernunft kritisiert, sondern nach Lage der Dinge Unvermeidliches zeternd vors Tribunal geschleift wird, schlägt sich die uns Christen durch das Anderssein der Juden beigebrachte Kränkung nieder. Nein, wir haben gar keinen Grund, etwa den Muslimen pauschal den Vorwurf der Intoleranz zu machen, denn vor der Herausforderung religiöser Selbstbescheidung und dialogischer Toleranz haben wir am Beginn unserer Geschichte als religiöse Gemeinschaft auf ganzer Linie versagt. Paulus mahnt demgegenüber im 11. Kapitel des Römerbriefs: „Haltet euch nicht selbst für klug!“ Auch im religiösen Weg des Anderen geht Gott seinen Weg mit seiner Menschheit. Glaube ist zu allererst Gottes Geschenk, ist Gnade für mich, keine Waffe gegen den Nächsten und dessen Bekenntnis.

II. Herausforderung des interreligiösen Dialogs
Dies vorweg. Kommen wir nun zur Herausforderung des interreligiösen Dialogs am Beginn des 21. Jahrhunderts, in Deutschland. Übereifrige Christen, die Mitmenschen den eigenen religiösen Weg nicht gönnen können, gibt es immer noch, sogar in wachsender Zahl. Aber das Gesicht der christlichen Gemeinden prägen sie insgesamt nicht. Das scheint quantitativ viel eher von fehlendem Eifer geprägt, davon, dass man nicht recht weiß, was Christsein denn ist und ob es für das eigene Leben etwas bedeutet. Womöglich ist der Übereifer jener wachsenden Minderheit ja die verzweifelte Reaktion auf den Untereifer der Mehrheit. Unsicherheit spielt bestimmt auch und gerade bei den ganz Eifrigen mit, denn wer wirklich davon getröstet ist, dass er mit Leib und Seele, beides im Leben und im Sterben nicht auf sich angewiesen, sondern Jesu Christi eigen ist, der wird mit Respekt vor dem Geber des Glaubens in der nötigen Gelassenheit anderen Menschen ihren religiösen Weg zugestehen.
Dieses von Desinteresse und Unsicherheit gezeichnete Christentum sieht sich nun vom Islam zum Gespräch geladen, von einem Islam, der jung ist und glaubt, der Welt etwas sagen zu müssen. Toleranz verlangt Positionen. Ein „Ist doch sowieso alles einerlei!“ verletzt jeden, dem seine Sache heilig ist. Und ein Dialog mit solchen, die für nichts stehen, frustriert. Wie steht es um unsere Dialogtauglichkeit und Dialogwürdigkeit? Wagen wir eine nüchterne, freilich nicht repräsentativ fundierte Bestandsaufnahme für unser Christentum und fangen wir hier im Hause an: Von den 17 Schülern eines Grundkurses Evangelische Religion, der im vergangenen Jahr das Abitur ablegte, wusste zu Beginn der 12. Jahrgangsstufe nur ein einziger auf Anhieb das Erste Gebot. Christenmenschen, getauft, konfirmiert und jahrelang in den Religionsunterricht gegangen, können weithin den Inhalt der christlichen Feste nicht erklären, kennen nicht den Zusammenhang des Kirchenjahres, vermögen nicht, den Kern des Evangeliums in einem Satz zu formulieren. Bei den katholischen Geschwistern scheint der Traditionsabriss noch nicht so verheerend vollzogen zu sein, tendenziell aber plagt sie das gleiche Problem. Selbst vielen Theologen fällt es schwer, Inhalt und Aussageabsicht der Trinitätslehre zu beschreiben, die doch nicht weniger als das Wesen des christlichen Gottesglaubens formuliert. Gerüstet zum Dialog mit Menschen aus anderen Religionen, die ihr eigenes Bekenntnis ernstnehmen und ernsthaft etwas von dem unseren erfahren wollen, ist man da kaum. Erschwerend kommt hinzu, dass mancherorts im Namen eines zur Doktrin erhobenen Dialogismus das Interesse an der eigenen Tradition geradezu systematisch zerstört wird. Das Postulieren von Gemeinsamkeit hebt an, bevor das Eigene wirklich angeeignet ist. Schülern dürften Bekenntnisse nur „relativierend“ vermittelt werden, fordert immer mal wieder ein „wertepädagogisches“ Konzept aus der Hauptstadt. So kann „Dialog“ nur zum unbekömmlichen Einheitsbrei werden, der allseits Unsicherheit nährt und zum Dünger für Fundamentalismen vergärt. Toleranz erwächst aus der souveränen Kenntnis der eigenen Tradition.
Der Erwerb einer profilierten religiösen Bildung widerspricht einer kritischen Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Religion keineswegs. Junge Christen müssen auch erfahren, welche Abwege das Christentum gegangen ist. Das christliche Bekenntnis beschreibt das Eingehen Gottes in menschliche Geschichte(n). Es verbindet auch Irrtümer und Fehltritte mit der großen, noch nicht erfüllten Verheißung des Friedensreiches. Dafür ist die Bibel das vielfältige Dokument. Die Erfahrung der vergangenen 200 Jahre, in denen man die Bibel als Produkt menschlichen Glaubenslebens und nicht mehr als zeitloses göttliches Diktat lesen lernte, lehrt durchaus, dass die historisch-kritische Bibellektüre den Lebensbezug biblischer Aussagen erhellt und vertieft. Wenn ich weiß, in welcher Situation eine bekenntnishafte Aussage formuliert wurde, erlebe ich darin ein Angebot, meine eigene Biographie in die Geschichte des Glaubens einzuschreiben, statt mich nur absoluten Lehrsätzen zu unterwerfen. Zugleich erwerbe ich Resistenz gegenüber ideologischer Vereinnahmung von religiösen Thesen. Eine religionsübergreifende historische Kritik, die auf wechselseitige Beeinflussungen und Variationen ihr Augenmerk richtete, böte dem interreligiösen Gespräch neue Chancen. Der Islam kann dazu nur ermutigt und eingeladen werden. Insgesamt hat die Popularisierung historischer Forschung dem Christentum gut getan. Das Pendant einer historisch-kritischen Koranlektüre auf muslimischer Seite ist sowohl der Entwicklung muslimischer Gemeinschaften innerhalb einer pluralen Gesellschaft als auch dem islamisch-christlichen Dialog zu wünschen.

III. Europa und das christliche Abendland
Von allen Glaubensfragen einmal abgesehen: Es führt kein realistischer Weg daran vorbei, dass Europa das christliche Abendland gewesen ist und dass es uns in der Überlieferung immer noch so begegnet. Das heißt nicht, hier dürften Menschen anderer Prägung nicht frei ihre Religion leben. Das heißt erst recht nicht, ein Europäer dürfte sich nicht kraft eigener freier Einsichten vom Christentum entfernen. Aber es bleibt dennoch dabei: Wer das Christentum nicht wenigstens in Grundzügen kennt, kennt Europa nicht. Was wäre die europäische Malerei ohne christliche Motive? Was die Musik ohne die Themen aus Altem und Neuem Testament? Wie will jemand unsere Baudenkmäler entziffern, der von den biblischen Geschichten keine Ahnung hat? Man führe sich vor Augen: Die Sowjetunion hat in den 1980er-Jahren an den Schulen verpflichtende Bibellektüre-Kurse eingerichtet. Das geschah nicht, um der Kirche etwas Gutes zu tun, sondern weil die Bildungsbürokraten gemerkt hatten, dass die Schüler ohne Bibelkenntnisse die Klassiker der russischen Literatur nicht verstehen konnten. Und mit unseren literarischen Klassikern steht es nicht anders! Weder Goethe noch Thomas Mann kann ich wirklich aufnehmen, wenn mir die biblische Grundierung ihres Erzählens fremd ist. Vorsicht also: Wir sind nicht sehr weit davon entfernt, Generationen kultureller Analphabeten heranzuziehen, indem uns die christlichen Grundkenntnisse abhanden kommen! Vor anderen Kulturen machen wir uns lächerlich, ja verächtlich, wenn wir Multikulti-Parolen im Munde führen, von der eigenen Kultur aber so gut wie nichts beherrschen, geschweige denn, sie anderen Menschen nahebringen können. In der Überlieferung der eigenen Gemeinschaft Bescheid zu wissen, ist keine altbacken-autoritäre Forderung, sondern Voraussetzung zur Teilhabe an der Gemeinschaft und auch zum wirklichen Dialog mit anderen Gemeinschaften. Übrigens fängt das Vertrautwerden mit biblischer Geschichte nicht erst in der Schule oder im kirchlichen Unterricht an, sondern klassischerweise in den Elternhäusern. Man schmälert die Zukunftschancen seiner Kinder nicht, sondern vermehrt sie sprunghaft, wenn man statt in das neueste Computerspiel einmal in die Zeit investiert, eine biblische Geschichte zu erzählen. Und, glauben Sie mir: Das sind, vor allem im Alten Testament, bei den Erzvätern, bei Joseph und seinen Brüdern, bei Mose und den Richtern, Königen und Propheten, einfach großartige und spannende Geschichten! Wenn irgendwo der Mensch in seiner Vielgesichtigkeit und in seinen Abgründen gekannt wird, dann da! Wer das liest und weitererzählt, der gewinnt nicht nur an Kultur und Bildung und Dialogtauglichkeit, sondern mindestens genauso an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung!

IV. Kurzer Ausflug in die Theo-Logie
Erlauben Sie mir einen kurzen Ausflug in die Theo-Logie. Man spricht von den drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum, Islam. Das ist oberflächlich auch richtig: Diese drei Religionen bekennen einen exklusiven Gott. Allerdings wird dabei leicht manches übergangen. Zum Beispiel dies, dass die Bindungen der Religionen untereinander höchst unterschiedlich geartet sind. Das Christentums steht dem Judentum näher als dem Islam, ja man tritt einem über sich selbst aufgeklärten Christentum nicht zu nahe, wenn man sagt, eigentlich sei es nichts als eine jüdische Sekte. Die jüdische Bibel gehört komplett zum christlichen Kanon, das NT wäre ohne alle darin enthaltenen Zitate, Anspielungen, Variationen aus der jüdischen Bibel kaum mehr als ein paar „und“, „aber“ und „oder“. Dass die Kirche viele Stellen anders gedeutet hat als die Synagoge, dass da eine spirituelle Erfüllung die irdische Heilserwartung der Juden abschneiden sollte, ändert nichts an dem Grundsachverhalt, der darin besteht, dass die Kirche hundertprozentig an die biblisch-jüdische Gotteserzählung anknüpft und voll auf sie angewiesen bleibt. Im Koran finden sich wohl ebenfalls ausführliche Bezüge auf AT und NT, jedoch ist die Anknüpfung hier wesentlich eklektischer und distanzierter. Dem glaubwürdigen Dialog hilft es, die Tatsachen klar zu benennen.
Auch die Erzväter, die in allen drei Religionen eine Rolle spielen, taugen m. E. nicht zur Konstruktion einer trilateralen Einigkeit. Zentral sind die Vätergestalten nirgends: Im Judentum geht es zentral um Mose, im Christentum um Jesus, im Islam um Mohammed. Der gemeisame Rückgang auf „das Abrahamitische“ hat etwas gezwungen Künstliches und verfehlt das theologische System wie das Leben der wirklichen Religionen. Hinzu kommt, dass die Väter dreifach jeweils durch die Brille der eigenen Prägung gesehen werden. Wenn für mich der Glaube Abrahams im Sinne des NT ein Vorausverweis auf Jesus ist, kann ich diese Sicht weder dem Juden noch dem Moslem auferlegen.
Letztlich entscheidend ist aber die Differenz im Gottesverständnis: Der Gott in AT und NT ist jederzeit bereit, in Geschichte einzugehen. Er leidet mit, wenn Menschen Leid erfahren. Das geht so weit, dass er sich in Jesus Christus inkarniert, dass er selbst Mensch wird in Zeit und Raum, und dass er selbst den menschlichen Tod stirbt, um den Tod zu überwinden. Dass Gott so etwas kann, ist mit den Juden nicht prinzipiell strittig. Der Gott Israels ist immer mitten dabei in der Menschengeschichte. Strittig ist auf dieser Seite, ob er in Jesus wirklich auf einmalige Weise anwesend war und ob Jesus der verheißene Messias ist. Zum Islam hin gibt es theologisch viel weniger Berührungspunkte. Der Gott des Koran ist, wenn ich ihn richtig deute, frei von geschichtlichen Verquickungen und deshalb z. B. zum Sterben unfähig. Einen Sohn zu haben, geziemt ihm durchaus nicht. Das ist Monotheismus pur und macht dieses Gottesverständnis philosophisch attraktiv, setzt es aber von der biblischen Erzähllinie beider Testamente ab, wo der eine Gott in seiner existentiellen Menschenzugewandtheit beschrieben wird. Christliche und muslimische Glaubenserfahrung können von theologischen Zentrum her kaum in Einklang gebracht werden.
Was in der Gotteslehre nicht gelingt, könnte aber beim Menschen glücken. So will ich dann doch mit Optimismus für den Dialog zwischen Islam und Christentum schließen. Beide sehen den Menschen als Geschöpf, gesetzt in die nicht von ihm selbst hervorgebrachte Welt, angeredet vom Schöpfer und Erlöser, begabt mit Vernunft und Einsicht, um die Welt menschenfreundlich zu gestalten. Kommen wir dazu kurz auf das Erste Gebot zurück, das die Schüler jenes Oberstufenkurses bis zum Abitur doch noch gelernt haben. Das Erste Gebot, das die Verehrung anderer Götter verbietet, dient meinem Heil nicht wegen der Einzahl des Göttlichen, so faszinierend diese denkerisch sein mag. Es dient mir vielmehr mit der Zusage, dass dieser Eine sich selbst dazu bestimmt, für mich zu sein: „Ich bin der Herr, Dein Gott!“ Gott kommt in meine menschliche Lebenssituation, redet mich an und lässt sich, reformatorisch gesprochen, von meiner Gottlosigkeit nicht abhalten, es gut mit mir zu meinen. Unsere Welt, die auf ganzer Linie ihre Unschuld eingebüßt hat, ist Gott seine Zuwendung wert. Die Anerkennung dieses einen Gottes schließt die Anerkennung der menschlichen Geschöpflichkeit ein: Ich bin nicht Gott, nicht zum Erschaffer und Vollender des Lebens berufen. Zugleich aber bin ich, zu dem Gott seine Beziehung hat, auch nicht der Würde- und Schutzlosigkeit des bloßen Objektdaseins ausgeliefert. Weder darf ich alles tun, was vermeintlich in meinen Kräften steht, noch darf mit mir alles getan werden. Demut vor der exklusiven Gottheit Gottes und Stolz auf meine unantastbare Menschlichkeit greifen ineinander. Heilsam sind wir Menschen von Gott begrenzt. Befreit sind wir, nach dem Maß unserer Einsicht und unseres Könnens Zivilisation zu bauen. Das fordert die Vernunft heraus, Begrenzungen zuzugeben und Selbstüberhöhungen abzuweisen. Hier haben die drei Weltreligionen, die von der Einzigkeit Gottes künden, der Welt in der Tat gemeinsam etwas zu sagen: Daß sie gehalten ist durch einen Willen, der ihr eigenes Wollen übersteigt, und dass ihr vernünftige Bescheidung guttut. Die ethischen Anwendungsfelder, auf denen zu bewähren ist, dass wir Menschen nicht Gott sind, dass aber Gott Gott-für-uns ist und uns mit Vernunft beschenkt, sind ebenso zahlreich wie konkret und aktuell: In der Biomedizin, wo Chancen auszuloten sind, aber niemals eine Vergottung des Menschen zum Herrn des Lebens platzgreifen darf, im Umgang mit Hilfsbedürftigen, wo nicht ökonomische Interessen die Frage ersticken dürfen: „Wie wollte ich behandelt werden?“, bei den politischen und sozialen Menschenrechten, bei der Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau wie zwischen den Generationen, in der vernünftigen und darum friedensdienlichen Verteilung politischer Gewalt.

V. Der eine Gott und die unterschiedlichen Wege zu ihm
Auf dieser Erde darf verschieden geglaubt werden, so gewiss der eine Gott nicht einfältig und beschränkt ist. Solange wir auf dem Weg sind, haben wir einander als Verschiedene zu achten. Erfahrungen von Verwandtschaft und Fremdheit sollen dabei ehrlich zur Sprache kommen. Je ehrlicher sie ausgesprochen werden, um so weniger wird Weggemeinschaft in Hass umschlagen. Zur Achtung des Anderen gehört, ihm das Zeugnis des Eigenen zu gönnen. Unsere gemeinsame Verpflichtung als Verschiedene, die wir die exklusive Gottheit des einen, den Menschen zugewandten Gottes bekennen, ist aber, dafür einzutreten, dass diese Erde immer mehr eine menschliche Erde wird, dass sie ein von Vernunft geprägtes Gesicht trägt und weder durch Selbstvergottung des Menschen noch durch Erniedrigung des Menschen zum Objekt beschädigt wird. Der Glaube, dass diese Erde in einer guten Hand ist, ist nicht Produkt unserer Weisheit. Er ist Geschenk. Der höchst vernünftige, weil zu Bescheidenheit und Toleranz mahnende Satz des Paulus: „Haltet euch nicht selbst für klug“, gilt uneingeschränkt. Eingeschlossen ist darin die Aufforderung, Intoleranz nicht zuzulassen und den Partner im interreligiösen Dialog nötigenfalls auch auf seine Haltung zur praktischen Vernunft, etwa in Gestalt der Menschenrechte, anzusprechen, so, wie auch wir uns immer wieder fragen lassen müssen, ob wir unser Bekenntnis erkennbar vertreten. Auf diesem Weg nützt es, das Erste Gebot zu lernen – und die neun anderen nebst der übrigen Hauptstücke dazu!

Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich eines von den Abiturienten des Christian-von-Mannlich-Gymnasiums in Homburg am 20. Mai 2005 veranstalteten Interreligiösen Dialogabends.

Abgedruckt im Pfälzischen Pfarrerblatt Nr.6/2005; Wiedergabe mit der freundlichen Erlaubnis des Autors

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