von Stefan Meißner
Das Grab von Moses Mendelssohn
Heute leben in Berlin gut 15.000 Jüdinnen und Juden. Das ist wenig im Vergleich zur Weimarer Republik, als die Zahl noch 173.000 betrug. Es ist aber ein Vielfaches der etwa 5.000 Menschen, die es nach dem 3. Reich noch waren. Manche von ihnen hatten die Zeit der Verfolgung in Verstecken überlebt, andere kamen als “displaced persons”, meist aus dem Osten. Fast alle sahen ihren Aufenthalt im “Land der Täter” als Provisorium an. Entsprechend gering waren die Anstrengungen, die gemacht wurden, eine neue jüdische Infrastruktur aufzubauen. Die Gemeinden waren, wie fast überall in Deutschland, klein und überaltert.
Erst die Öffnung des eisernen Vorhangs und der dadurch ermöglichte Zuzug von jüdischen Kontingent-Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion änderte diese Situation. Insgesamt sind heute rund 80 % der Juden in Berlin russischer Herkunft. Der Zuzug überwiegend junger Menschen aus dem Osten brachte einerseits junges Blut in die Gemeinden, stellte sie gleichzeitig aber vor eine gewaltige Integrationsaufgabe.
Diese Aufgabe ist heute eine der größten Herausforderungen der sog. „Einheitsgemeinde“, der etwa 11.500 Mitglieder angehören. Das Spektrum der jüdischen Dachorganisation, die nach dem Boom der 90er-Jahre wieder einen leichten Rückgang zu verzeichnen hat, ist in der Bundeshauptstadt ausgesprochen breit. Es reicht von den Reformsynagogen der liberalen Juden bis zur ultra-orthodoxen Chabad, einem Ableger der Lubawitzer Chassiden.
Die Einheitsgemeinde ist wie die Kirche eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, d.h. sie finanziert sich zu einem guten Teil durch eine vom Staat eingezogene Steuer. Von diesem Geld muss sie ihre 400 Angestellten bezahlen, die Verwaltung der Gemeinde erfolgt durch Ehrenamtliche. Ein wichtiger Vorteil des Körperschaftsstatus sind die verschiedenen Möglichkeiten öffentlicher Einflussnahme, wie z.B. im Schulbeirat oder im Rundfunkrat. Zu den vielfältigen religiösen Aufgaben der Gemeinde gehören die Kultusaufgaben im engeren Sinn, also der Gottesdienst, aber auch die Unterstützung bei familiären Feiern wie Beschneidung, Hochzeit und Beerdigung. Ein großes Problem stellt derzeit der begrenzte Platz auf den Friedhöfen dar.
Lernen hinter Schutzzäunen - "Normalität"
im jüdische Gymnasium
Einen hohen Stellenwert geniest in der jüdischen Gemeinde die Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Die Einheitsgemeinde unterhält einen Kindergarten, eine Grundschule, eine Oberschule, außerdem wird ein Sommer-Ferienlager angeboten. Die Versorgung der Senioren gewährleisten eigene Wohn- und Pflegeheime, auch ein jüdisches Krankenhaus gibt es in Berlin. Schließlich sind zu nennen die Gedenk-Arbeit, die Zusammenarbeit mit Israel und das Angebot von Deutsch- u. Hebräischkursen.
Vor dem Krieg leben allein in Charlottenburg etwa 27.000 Juden. Auch heute pulsiert hier wieder jüdisches Leben, vor allem in der Gegend zwischen dem „Kadewe“ und dem Olivaerplatz. Beliebter Treffpunkt ist das Cafe Bleibergs, wo jüdische Künstler musikalisch und literarisch aktiv sind. Einen von fünf koscheren Läden in Berlin, das “Pläzl”, findet man in der Passauerstrasse. Zu den Auslagen im Schaufenster gehören nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bücher und Ritualgegenstände. Im gleichen Gebäude treffen sich regelmäßig bucharische Juden, deren Gottesdienst dem sephardischen Ritus folgt.
Während der Zuzug aus dem Osten mittlerweile abgeebbt ist, zieht es in den letzten Jahren viele israelische und argentinische Juden nach Berlin. Einige dieser Immigranten, die häufig Distanz zur Gemeinde halten, kommen wegen dem Flair der aufstrebenden Metropole, für andere mögen auch soziale Gründe eine Rolle spielen. Wer nachweisen kann, dass ein Großelternteil jüdisch war, erhält einen deutschen Pass und damit Zugang zum Arbeitsmarkt der Europäischen Gemeinschaft. Die ca. 100 „Israelis“ feiern einen eigenem Gottesdienst in der Joachimstaler-Straße 13, in der Nähe des Bahnhofs Zoo.
Koscheres Lebensmittelgeschäft
Einen von fünf koscheren Läden in Berlin, das “Pläzl”,
findet man in der Passauerstrasse. Zu den Auslagen im Schaufenster gehören
nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bücher und Ritualgegenstände.
In dem Gebäude treffen sich regelmäßig bucharische Juden, deren
Gottesdienst dem sephardischen Ritus folgt. Ein weiterer sephardischer Minjan
unter dem Namen „Or
Zion“ trifft sich in der Joachimstaler-Straße 13, in der Nähe
des Bahnhofs Zoo. Ihr geistliches Oberhaupt ist der aus Jemen stammende Rabbiner
Abraham Daus.
Das Zentrum in der Joachimstalerstraße, das einst Haus der jüdischen Loge Bnei Brith war und während der Nazizeit Sitz der liberalen Joseph-Lehmann-Schule, beherbergte nach der Befreiung 1945 Berlins erster jüdischer Kindergarten. Hier befindet sich heute das einzige jüdische Gotteshaus in Berlin, in dem jeden Tag gebetet wird. Rabbiner dieser orthodoxen Synagoge ist seit 1997 Jizchak Ehrenberg. Im Keller gibt es eine traditionelle Mikwe, wie übrigens auch in der Oranieburgerstraße (dort: trans-denominationell). Die übrigen Räume beherbergen die Büros zahlreicher jüdischer Organisationen.
Von außen sieht man nur den Schnell-Imbiss „Salomon Bagels“ und die jüdische Traditionsbuchhandlung Rahel Salamander, wo man nicht nur Judaica-Literatur kaufen kann. Die Einrichtungen werden, wie viele (nicht nur) in Berlin, durch große Betonklötze zur Straße hin und permanente Polizeipräsenz gegen Anschläge geschützt.
Jüdisches Gemeindehaus in der Fasanenstraße
Ein weiteres jüdisches Gemeindehaus liegt in der Fasanenstraße (Nr. 75-80). Diese 1912 eingeweihte Synagoge, in der bis zu seiner Deportation Leo Baeck seinen Dienst als Rabbiner versah, wurde in der Pogromnacht 1938 schwer beschädigt und nach dem Krieg dann abgerissen. Im 1959 neu geweihten Gemeindehaus, in dessen Fassade Reste der alten Synagoge integriert wurden, befindet sich heute ein koscheres Restaurant (“Arche Noah”), eine Bibliothek, die jüdische Volkshochschule, Büroräume der Gemeinde, sowie eine Seniorentagesstätte. Das Mahnmal auf dem Hof erinnert an die Lager, in die die 59000 Berliner Juden deportiert wurden, daneben mahnt eine Bronzeskulptur von Richad Heß, die eine zerbrochenen Torarolle darstellt: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Lev 19,18).
Eingangstor zur Jeshiva auf dem Prenzlauer Berg
Viele jüngere Juden leben heute am Prenzlauer Berg im Ostteil der Stadt. Hier sind nicht nur die Wohnungen billiger sind als im Westen, der Stadtteil besitzt auch ein ganz eigenes Flair. In der Rykestasse 53, in der Nähe des alten Wasserturms, befindet sich die größte erhaltene Synagoge Berlins. Das 1904 eingeweihte Backsteingebäude fasst immerhin 2000 Sitzplätze. Im Vorderhaus, wo früher eine jüdische Grundschule untergebracht war, hat 1996 die Lauder-Foundation ihre Pforten aufgemacht. Benannt ist diese Institution, die sich die Pflege des jüdischen Erbes in Osteuropa auf die Fahnen geschrieben hat, nach Ronald Lauder, einem vor kurzem verstorbenen österreichischen Diplomaten, Sohn der Kosmetikkönigin Estée Lauder. Die von Rabbi Spinner, einem Kanadier aus Hamilton/Ontario, geleitete traditionelle Jeshiva [= Lehrhaus] verfolgt die Aufgabe, “aus dem Nichts” eine jüdische Infrastruktur aufzubauen. Ein ehrgeiziges Projekt, schließlich war hier vor dem Mauerfall kaum mehr jüdisches Leben zuhause. Das orthodoxe Lehrhaus, das einzige seiner Art in Deutschland, unterrichtet acht Stunden Talmud täglich, und zwar (wegen des internationalen Publikums) in englischer Sprache. Stolz ist Rabbi Spinner auf das von einem Gönner gestiftete neue Haus in der Brunnenstrasse (Berlin-Mitte), wo die Kapazitäten der Jeshiva verdreifacht werden sollen. Die Studiengebühr der gegenwärtig 30 Studenten beträgt 200 Euro monatlich. Neben der Niederlassung am Prenzlauer Berg betreibt die Lauder-Stiftung noch eine Midrascha für Mädchen in Frankfurt am Main, einen Kindergarten in Hamburg und eine Schule in Köln.
Zugang zum "Judengang", unweit des
Friedhofes Schönhauser Allee
Unweit der Rykestrasse liegt, idyllisch hinter hohen Mauern versteckt, der
jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee. Er wurde 1827 eröffnet,
als es an der Grossen Hamburger Strasse, wo der jüdische Aufklärer
Moses Mendelssohn begraben liegt, zu eng wurde. Das dreieckige, von alten Bäumen
beschattete Areal beherbergt ca. 25.000 Gräber. An vielen von ihnen sieht
man noch die Spuren der Schändung durch die Nazis. Zu den bekanntesten
gehört die Ruhestätte des Malers Max Liebermann, aber auch die Gräber
der jüdischen Religionswissenschaftler Leopold Zunz und Abraham Geiger.
Seit einigen Jahren trifft man in Berlin auch Institutionen des konservativen
Judentums an, das zwar im 19. Jhd. in Deutschland entstand (Rabbinerseminar
Breslau), aber heute in den USA seine größte Verbreitung findet.
Die etwa 100.000 Juden, die sich dieser Strömung in Europa zurechnen, werden
betreut durch 30 Rabbiner. Während es in England und Frankreich schon länger
„Masorti“-Gemeinden (http://masorti.de/ ) gibt, liegt die Gründung
eines Gründung eines Dachverbandes hierzulande noch nicht weit zurück
(2002).
Die konservative Gottesdienstgemeinde in Berlin ist ein egalitärer [= gleihberechtigter] Minjan aus Männern und Frauen, der sich zunächst in der Fasanenstraße traf und seit 1983 in der Oranienburgerstrasse zuhause ist. Halachisch, d.h. was das Gesetzesverständnis angeht, ist „Masorti“ zwischen Reform und Orthodoxie anzusiedeln. Das Gebetbuch („Siddur“) ist, abgesehen von einigen Stellen, die meist die Rolle der Frau betreffen, im wesentlichen traditionell.
Treibende Kraft der Konservativen in Berlin ist Gesa Ederberg, die einzige derzeit amtierende Rabbinerin in Deutschland. Die Leiterin des Masorti-Lehrhauses, die ihr Rabbinerstudium am Jewish-Theological-Seminary in New York absolvierte, ist mit halber Stelle noch Rabbinerin in Weiden. Das Pendeln zwischen der Hauptstadt und der oberpfälzischen Provinz ist oft mühsam, aber berufliche Alternativen sind kaum in Sicht.
Um Parallelstrukturen zu vermeiden, arbeitet man in und mit den bestehenden Gemeinden. Das Bildungsangebot im Lehrhaus, das sich vornehmlich an Erwachsenen richtet, wird ergänzt durch einen Kindergarten in der Wilhelmsaue, der sich als Kern eines Familienbildungsangebots versteht. Der Unterricht in den Gruppen, in dem bewusst jüdische Traditionen und Werte gepflegt werden, erfolgt zweisprachig (deutsch und hebräisch) und wird zu 91% staatlich finanziert.
Eine der liberalen Synagogengemeinden trifft sich in der Pestalozzistraße 14-16. Hier amtierte lange Jahre der bekannte Kantor Estrongo Nachama. Anders als beispielweise beim „egalitären Minjan“ in der Oranienburgerstraße dürfen hier Frauen nicht aus der Tora lesen.
Seit 1998 gibt es auch wieder eine Betergemeinschaft im Süden Berlins (Hüttenweg 45). Die als eingetragener Verein („Sukkat Schalom“) organisierte Gruppe wird ehrenamtlich geleitet von Rabbiner Andreas Nachama. Für den noch unregelmäßigen Sabbatgottesdienst stehen seit 2002 nun auch wieder eigene Tora-Rollen zur Verfügung. Einer der Gründer ist Rechtsanwalt und Notar Albert Meyer, der z.Zt. auch Vorsitzender der jüdischen Einheitsgemeinde ist.
Neue Synagoge in der Oranienburgerstraße
Rund um die "Neue Synagoge" in der Oranienburger Strasse 29, die
in der Pogromnacht 1038 zerstört wurde und heute ein Judaica-Museum beherbergt,
gibt es heute wieder so etwas wie eine jüdische Subkultur. Hier finden
sich gemütliche Restaurants und Cafés mit jüdischen Spezialitäten,
eine jüdische Galerie und das koschere Beth-Cafe von Adass Jisroel.
Gerade um die Ecke am der Großen Hamburger Straße hat 1993 ein jüdisches
Gymnasium seine Pforten aufgemacht, im Haus der früheren "Jüdischen
Knabenschule". Wenige Schritte weiter steht unter Bäumen ein Gedenkstein
für die Opfer der Transporte in die Ghettos und Vernichtungslager. Dahinter
befand sich der erste jüdische Friedhof in Berlin, auf dem Moses Mendelssohn
begraben liegt. Von den Grabsteinen ist aber fast keiner mehr erhalten, auch
der des jüdischen Aufklärers ist nicht mehr das Original aus dem 18.
Jhd. Ebenfalls nur ein Katzensprung ist es zum Hackeschen Hoftheater, wo Liebhaber
jiddischer Musik und jiddischen Theaters auf ihre Kosten kommen.
Wirbt mit warmherziger Atmosphäre: Chabad
Weniger im Lichte der Öffentlichkeit spielen sich die Aktivitäten
der orthodoxen Juden Berlins ab. Hier wäre an erster Stelle die 1989 neu
gegründete Austrittsgemeinde „Adass Jisroel“ zu nennen, deren
Wurzeln bis in das 19. Jhd. zurück reichen. Die frühere prächtige
Synagoge in der Tucholskystraße 40 wurde im 3. Reich beschädigt und
nach dem Krieg abgerissen. Noch finden die Gottesdienste der 1000-2000 Mitglieder
zählenden Gemeinde in enem kleinen Synagogenraum statt, aber Rabbiner Mario
Offenberg träumt von einer neuen Synagoge und einem eigenen Kindergarten.
Angesichts der rassanten Entwicklung gerade im orthodoxen Spektrum des jüdischen
Berlin vielleicht bald kein Wunschtraum mehr.
Ebenfalls sehr erfolgreich, nicht zuletzt wegen zahlreicher öffentlichkeitswirksamer
Aktionen, ist der Berliner Ableger von „Chabad“.
Der Name leitet sich von den hebräischen Begriffen chochma, bina und daat
her, die für drei der zehn in der Kabbala erwähnten göttlichen
Kräfte (“Sefirot“) stehen. Die chassidisch beeinflusste Bewegung
wurde vor über hundert Jahren im Weißrussischen Städtchen Lubawitz
gegründet, von wo aus sie sich in alle Welt verbreitete. Ihr 1994 in New
York-Brooklyn verstorbener geistlicher Führer, Rabbi Menachem Mendel Schneerson,
wurde von vielen Mitgliedern als Messias verehrt. Dass sich Chabad jüngst
in einen messianischen u. einen nichtmessianischen Zweig spaltete, scheint ihrem
Siegeszug keinen Abbruch zu tun. Der missionarische Eifer von Chabad zielt v.a.
auf säkulare Juden, die von ihren jüdischen Wurzeln entfremdet waren.
Die Pläne von Rabbi Teichtel und seinen Mitstreitern sind ehrgeizig: Auf
ihrer Webseite prangt bereits ein Bild des neuen geplanten Gemeindezentrums
mit Kindergarten und vielem mehr.
Zahlreiche Führungen durch das jüdische Berlin bietet an: Iris Weiß
(www.berlin-juedisch.de)
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