Vortrag von Pfr.i.R. Helmut Foth
in Frankenthal am 10. März 2015
im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit
I. Zum Einstieg zwei Beispiele aus der neueren Rezeptionsgeschichte
Luthers
Hans Meiser – er war 1926 Leiter des Predigerseminars der Evangelisch-Lutherischen
Kirche in Bayern und bildete dort die angehenden evangelischen Pfarrer
aus (Meiser wird 1933 Bischof der –lutherischen Landeskirche in
Bayern) schrieb damals in einem Aufsatz „Die evangelische Gemeinde
und die Judenfrage“ (1926)
"Es ist oft betont worden, dass der jüdische Verstand etwas
Zerfressendes, Ätzendes, Auflösendes an sich hat. Er ist kritisch
zersetzend, nicht kontemplativ, konstruierend, produktiv ... Was dieser
Geist schon gesündigt hat an unserem Volk, welch furchtbares Unwesen
er ... treibt, ist kaum auszusagen.
"Es gilt hier der Grundsatz, dass die Treue gegen das eigene Volk
eine ernsthafte Christenpflicht ist. Es liegt etwas durchaus Berechtigtes
in der Forderung nach Reinhaltung des Blutes. So wenig wir Mischehen etwa
mit naturalisierten Slaven gutheißen können, so wenig können
wir Mischehen zwischen Deutsch-Stämmigen mit Juden billigen.“
„Darum können wir uns mit den völkischen Idealen weithin
einverstanden erklären ..."
(zitiert in Röhm/Thierfelder, Juden-Christen-Deutsche, Band1, 350f)
Im November 1933 wurden anlässlich von Luthers 450. Geburtstag deutschlandweit
mit großer Begeisterung „Luthertage“ gefeiert. So auch
in Ludwigshafen:
Am 17. November 1933 nahmen 15.000 Ludwigshafener Protestanten daran teil,
feierten Luther als Reformator und großen Deutschen, das Lutherbild
prangte neben dem Hitlerbild zwischen den „Fahnen des neuen deutschen
Reiches“, und der von der Kirchenregierung im Sommer 1933 gewählte
neue Dekan Karl Emrich, der dem NS-Staat nahe stand, hielt seine erste
öffentliche Rede in der Stadt. Er führte unter anderem aus:
„Martin Luther, steig herauf aus deiner Gruft, die Festtagsglocke
ruft! Deutsch sein Name, deutsch sein fröhliches Kinderherz.“
(Friedhelm Borggrefe, „Im Gleichschritt Marsch“ – Evangelisch
in Ludwigshafen 1933-1945 (2014), S. 209)
Woher kommt dieser protestantische Antisemitismus?
Haben sich die Protestanten im Hitlerjahr 1933 zu Recht auf Luther bezogen?
II. Zu Luther Schriften über die Juden Luthers
Schrift von 1523
Luthers Schrift von 1523 Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei
löste bei den Juden nicht nur in Deutschland große Zustimmung
aus. Er hatte die alten Vorwürfe der Blutsbeschuldigungen und des
Hostienfrevels widerlegt und zu einem freundlichen Umgang mit den Juden
geraten. »Christlicher liebe gesetz an yhn üben und sie freuntlich
annehmen, mit lassen werben und erbeytten, da mit sie ursach und räum
gewynnen, bey und umb uns tzu sein, unser Christlich lere und leben tzu
hören und sehen.« (WA 11, S. 336,30-33).
Luther nennt die Juden „vettern und bruder unseres Herrn“,
die Christen nur „Schweger und frembdling“ (ebd., S.315, 26f).
Kein Autor des 16. Jahrhunderts ist wirkungsvoller für die Forderung
eingetreten, Juden als Mitmenschen zu dulden und ihnen Rechte zu gewähren.
Auszüge dieser Schrift Luthers wurden ins Spanische und Hebräische
übersetzt. Jüdische Gelehrte aus Südeuropa und Palästina
sahen in Luther einen Reformator, der entschlossen war, religiöse
Wahrheit und Gerechtigkeit wiederherzustellen- Dass sich die Reformatoren
für das Studium des Hebräischen einsetzten und jüdische
Schriften benutzten, stimmte sie zuversichtlich. Ein Zeitalter der Toleranz
schien mit Luther angebrochen.
Josel von Rosheim (1476 - 1554)
[Selma Stern hat ihm 1959 mit ihrer großartige Biographie ein
Denkmal gesetzt]
Diese herausragende Gestalt des deutschen Judentums in der Zeit der
Reformation war als „Befehlshaber“ und Rechtsvertreter der
deutschen Judenheit in Verbindung mit Kaiser Maximilian I. und nun auch
mit dem jungen Kaiser Karl V. gestanden. Unentwegt hat er sich bei ihnen
und vielen Landesfürsten für den Schutz seiner Glaubensgenossen
eingesetzt. Er bemühte sich, die wirtschaftliche und soziale Lage
der Juden des Reiches den geänderten Verhältnissen des Frühkapitalismus
anzupassen. Gleichzeitig war er bestrebt, die religiösen und wirtschaftlichen
Spannungen zwischen Juden und Christen zu verringern, auch auf Kosten
der Juden, wenn es sein musste. Josel von Rosheim blieb gegenüber
Luther Schrift und reformatorischem Aufbruch skeptisch. Josel war angesichts
des Verlaufes, den die Reformation nahm, davon überzeugt, dass die
lutherische Bewegung eine verschärfte Gefahr für die deutsche
Judenheit bedeutete. Er befürchtete, dass durch die Reformation die
territorialen Machthaber gegenüber dem Kaiser gestärkt und damit
der kaiserliche Schutz für die Juden geschwächt würden.
Und der Kaiser hatte bislang wie seine Vorgänger die jüdische
Gemeinschaft unter seinen Schutz gestellt.
Die Schriften Luthers vom Wucher und Kaufhandel
Ab dem letzten Drittel des 15.Jahrhunderts kam es zu einem gewaltigen
Ausbau des Geldwesens, nicht zuletzt durch die steigende Produktivität
in der Silbergewinnung hervorgerufen. Die zunehmende Geldwirtschaft brachte
eine Teuerung mit sich, die zu einer Massenverelendung weiter Teile der
Bevölkerung führte. Luther hatte sich in dieser frühen
Phase dreimal mit der speziellen Wucherthematik beschäftigt; 1519
im Kleinen Sermon von dem Wucher, 1520 mit dem Großen Sermon von
dem Wucher und 1524 mit dem Traktat Von Kaufhandel und Wucher (WA 15,
293ff). Luther hält sich treu an das biblische Zinsverbot. Seine
scharfen Äußerungen gegen den Wucher macht er vor allem an
den großen Kapitalgesellschaften der Fugger und Welser fest. 1524
schrieb er, dass diese neue Art der Geldwirtschaft „ uns Deutsche
dahin geschleudert (hat), dass wir unser Geld und Silber in fremde Länder
geben, alle Welt reich machen und selbst Bettler bleiben müssen.“
Und er forderte das Verbot der Handelsgesellschaften: „Sollen die
Handelsgesellschaften bleiben, so muß Recht und Redlichkeit untergehen.
Soll Recht und Redlichkeit bleiben, so müssen die Handelsgesellschaften
untergehen“. Luther argumentiert „antikapitalistisch“,
aber noch nicht ausgesprochen antijüdisch, doch die beiden ersten
rasch und zahlreich verbreiteten Schriften waren mit eindeutig antisemitischen
Titelblättern versehen („Bezal oder gib zins). Luther hatte
diese Titel-Bilder billigend in Kauf genommen. Rund zwanzig Jahre später
wird er auf erheblich rabiatere Weise auf den Wucher der Juden zurückkommen.
Die Bedeutung des Hebräischen, Ansätze des jüdisch-christlichen
Dialogs und Luthers Verständnis des Alten Testaments
Das Hebräische gewann seit der Jahrtausendwende mit dem Aufblühen
des Humanismus in Italien und Deutschland ungemein an Bedeutung. Die Bibel
in ihrer Ursprungssprache verstehen und auslegen zu können, setzte
ausgezeichnete Hebräischkenntnisse voraus.
Jüdische Gelehrte (auch getaufte) und jüdische Schriften spielten
bei der Vermittlung des Hebräischen eine Schlüsselrolle. Aufgrund
ihrer umfassenden Kenntnis der Sprache und Überlieferung der Bibel
lieferten Juden einen wichtigen Beitrag zum reformatorischen Prozess.
Hier liegt vielleicht ein entscheidender Unterschied zwischen Luther und
einigen christlichen Hebraisten, unter ihnen auch täuferisch Gesinnte.
Luther, der in so einmaliger Weise die hebräische Bibel übersetzte,
suchte von sich aus niemals den Kontakt zu gelehrten Juden. Ganz im Gegensatz
zu den reformatorischen „Judenfreunden“ Wolfgang Capito in
Straßburg (er war ein Freund Josels!), Andreas Osiander in Nürnberg
oder den Täufern Hans Denck und Ludwig Hätzer. „Der 'Sitz
im Leben' von Luthers Beschäftigung mit dem Judentum war in keiner
Lebensphase ein Gespräch mit dem Judentum, sondern der Kampf eines
christlichen Theologieprofessors um die `Wahrheit´ des Evangeliums
und die 'Reinheit' der Kirche“ (Thomas Kaufmann). In den Städten,
in denen Luther gelebt hatte, waren Juden schon längst ausgewiesen
worden. Eine ‚judenfreie’ Stadt war für Luther der Normalfall.
Luther hatte sich auch immer gegen die Teilnahme an einer Disputation
mit Juden gewandt. Er hatte Angst, die Juden in ihrem theologischen Irrtum
zu bestärken. Die täuferischen Hebraisten Hätzer und Denck
hingegen – um ein Beispiel aus unserer allernächsten Nähe
zu nenne - suchten das Gespräch und den geistigen Austausch mit Rabbinern
in Worms. In allerkürzester Zeit vollendeten 1527 Ludwig Hätzer
und Hans Denck mit Hilfe jüdischer Gelehrter die Übersetzung
der 16 Prophetenbücher – die sog. Wormser Propheten - und schufen
damit die erste Teilübersetzung des Alten Testaments, noch vor der
Zürcher Prophetenübersetzung und Luther Verdeutschung des AT.
Diese Übersetzung war ein großer Verkaufserfolgt auf der Frankfurter
Frühjahrsmesse. Sogar Luther anerkannte die Übersetzungsleistung
von Hätzer und Denck. Doch schon früh geriet diese Übersetzung
in Misskredit aufgrund der jüdischen Mitarbeit und der „ketzerischen
“ Ansichten ihrer Autoren. Die lutherische Stadt Nürnberg verbot
wenig später den Verkauf dieser unkonventionellen, am Wortsinn orientierten
Übersetzung.
Für Luther hatte bei allen Stellen das AT mit einem Doppelsinn nur
diejenige Auslegung zu gelten, die mit dem NT übereinstimmte: Das
AT war für Luther eigentlich ein christliches Buch, nur mit der christlichen
Brille zu lesen. Darum war für ihn klar, dass die Hebraisten trotz
ihrer hervorragenden hebräischen Grammatikkenntnis die Bibel so wenig
verstehen könnten wie die Juden. Er nannte in einer Randglosse in
seiner letzten Bibelausgabe von 1545 die Hebraisten Rabbiner „d.h.
als Tier ohne Verstand“.
Vier tröstliche Psalmen an die Königin zu Ungarn 1526
Auslegung von Psalm 109
Politisch, aber auch theologisch hochinteressant sind die Auslegungen
von „Vier tröstlichen Psalmen an die Königin von Ungarn“.
Sie war die hoch gebildete Maria, die Schwester Kaiser Karls V. und seines
Bruders Ferdinand, König von Bayern. Die Brüder waren Gegner
der Reformation, aber die Schwester – die lebenslang dem katholischen
Glauben treu blieb – zeigte Sympathien für den lutherischen
Aufbruch und las nachweislich Luthers Schriften.
Wollte er sie als Vermittlerin im aktuellen Religionsstreit gewinnen?
Wollte er Einfluss auf ihre Judenpolitik nehmen?
Seine Deutung von Psalm 109 zeigt allerdings, dass so gut wie alles, was
er drei Jahre zuvor über die Juden geschrieben hat, „wie weggeblasen“
scheint (Peter von der Osten-Sacken, S.97). Er sieht in diesem Psalm 109
völlig textwidrig Christus gegen die Juden fluchen, der Psalm selbst
wird für Luther zu einer antijüdischen Hasskanonade: heimatlos
und ungewisse Gäste und Bettler seien sie, verstockt, nicht zu bekehren,
„das sie nicht weichen von yhrem synn, ob sie wol wissen, das sie
überwunden sind mit der schrifft“. Die Verstockung stecke den
Juden tief im Herzen, sei zu ihrer »natur worden [...] (WA 19, ebd.,
S. 607, 8f.); Die Juden sind eigentlich theologisch erledigt, der „Satan
stehet zu yhrer rechten.“ (WA 19, S. 599,6-11).
Der Augsburger Reichstag 1530 und christliche Ängste vor
der jüdischen Rache
Die seit einigen Jahren akute Bedrohung durch das osmanische Heer hatte
in mehrfachem Sinne großen Einfluss auf den reformatorischen Prozess.
Die Türken vor Wien 1529 – weite Teile Mitteleuropas waren
schon von ihnen erobert worden – forderten Karl V. große Anstrengungen
ab: Militärische Bündnispartner und vor allem Geldmittel für
den Krieg gegen die Türken mussten gewonnen werden.
Hinzu kam: Jüdischer Messianismus und jüdische Endzeiterwartungen–
auch christlich adaptiert in radikalreformerischen Kreisen - stellten
eine große politische Gefahr dar und verstärkten den Hass auf
Juden und „judaisierende“ reformatorische Gruppen.
In dieser Zeit erhitzten Verschwörungstheorien die Gemüter,
ein jüdisch-türkisches Komplott schien aufgedeckt und traditionell
verbreitete Christenängste vor der jüdischen Rache brachen aus.
Besondere Gefahr ging für die Juden von einer Schrift aus, die von
dem jüdischen Konvertiten Antonius Margaritha drei Monate vor der
Reichstagseröffnung veröffentlicht worden war. Sie trug den
Titel Der gantz Jüdisch glaub (Augsburg 1530) und enthielt u.a. schwerwiegende
Beschuldigungen, die Juden würden in ihren Gebeten Christus verfluchen
und in ihren Synagogen für den Untergang des Kaisertums und den Sieg
der Türken über die Christen beten. (S. Stern, 86f). Kaiser
Karl stimmte für eine Disputation, in der Josel von Rosheim vor einer
gelehrten Kommission und dem Kaiser Margarithas Anklagen widerlegen könne.
Josel muss die Verteidigung so überzeugend gelungen sein, dass Margaritha
als übler Denunziant gefangen genommen und aus Augsburg verbannt
wurde.
Luther wird das Buch Margarithas im schlimmsten Abschnitt seiner Judenfeindschaft
in den 1540er Jahren als Vorlage nutzen.
Luther hatte in dieser Phase seines Wirkens ganz offensichtlich jegliche
Hoffnung aufgegeben, auch nur einzelne Juden für das Evangelium zu
gewinnen. Typisch für seine Haltung ist seine drastische Reaktion
zum Thema Judentaufe:
»Wenn ich aber einen frommen Juden [d. h. einen Juden, der in Wahrheit
Jude bleiben will] überkomme zu taufen, so will ich ihn balde auf
die Elbbrücke führen und ein Stein an Hals hängen und in
die Elbe werfen; denn diese Schälke verspotten uns und unsere Religion!«
(Anfrage seines Freundes Justus Menius hin im Sommer 1532, WATr 1, S.
124,22-24).
Fazit für die Zeit bis 1532
Theologisch
Luther erteilt der jüdischen Interpretation des Alten Testament eine
kategorische Absage. Er lehnt aber auch christliche Hebraisten ab, die
mit den Mitteln einer reinen vernunftgeleiteten Sprach- und Grammtikkenntnis
die Bibel auslegten. Das Judentum ist für Luther keine legitime Glaubensmöglichkeit
mehr. Ein messianisches Hoffen der Juden in welcher Form auch immer kann
er aufgrund seiner christlichen Deutung des AT nicht dulden. Für
ihn geschieht durch die Juden und ihren geistigen Einfluss eine Unterwanderung
des Evangeliums, Einbrüche des Bösen in das christliche Gemeinwesen.
Darum gilt als einzige Abwehrmaßnahme ihre konsequente Isolierung.
Thomas Kaufmann:
„Luther war in keiner Phase seines Lebens ein Judenfreund. Was sich
geändert hat, sind die strategischen Hinsichten, die strategischen
Perspektiven im Umgang mit den Juden. Er ist nicht vom Philosemiten zum
Antisemiten geworden. Das wäre eine Verzeichnung“.
Politisch
Noch 1523 stellte er in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“
fest, dass Gewissens- und Glaubensüberzeugungen nicht in den Bereich
der obrigkeitlichen Gewalt gehört und dass sich dieselbe nur auf
das äußere Leben, auf Hab und Gut bezieht: „Denn über
die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen als sich selbst allein.“
(Lehre von den Zwei Reichen).
1536 wird Luther eine Denkschrift von Wittenberger Theologen unterschreiben,
in dem diese die regierenden Fürsten auffordern, Wiedertäufer
hinzurichten, also Todesurteile wegen Gesinnungen zu verhängen: “Jedermann
ist schuldig nach seinem Stand und Amt, Gottes Lästerung zu verhindern
und abzuwehren. Und kraft dieses Gebots haben Fürsten und Obrigkeiten
Macht und Befehl, unrechten Gottesdienst abzutun…Die Begründung
liefert ausgerechnet ein atl. Text aus Lev. 24 : „Wer Gott lästert,
der soll getötet werden.“ (WA 50, S.12)
Die Juden waren aus Luthers Sicht zwar keine Ketzer wie die Wiedertäufer,
aber Gotteslästerung und Verspottung Christi und Marias wirft er
ihnen wiederholt vor. Für Luther war eine durch religiöse Gedankenvielfalt
geprägte Gesellschaft unannehmbar. Der Staat hatte seine Schriftauslegung
zu schützen. Andere reformatorische Lebensformen wurden von Luther
kriminalisiert.
Luthers Brief an Josel von Rosheim 11.6.1537 als Kehrtwende
(WA Br 8, 89-919)
Es ist das einzige Dokument, in dem Luther direkt zu einem Juden –
in diesem Falle zum prominentesten Juden in Deutschland – spricht.
Im Jahre 1537 erfuhr Josel von Rosheim, dass der lutherische Kurfürst
Johann Friedrich von Sachsen die Absicht hatte, alle Juden aus seinem
Gebiet zu vertreiben und ihnen auch den Durchzug durch sein Kurfürstentum
zu verbieten, was eindeutig kaiserlichem Recht widersprach. Josel suchte
das Gespräch mit dem Kurfürsten selbst und mit Luther, den er
zurecht als Antreiber hinter dieser Maßnahme vermutete.
Vom Straßburger Rat erhielt er ein Empfehlungsschreiben für
den Kurfürsten und aus dem Kreis der Straßburger Reformatoren
bat Capito in einem Brief an Luther, Josel selbst anzuhören.
Aber Luther antwortet Josel mit einem ablehnenden Brief, der seine Kehrtwende
in seiner Haltung den Juden gegenüber endgültig festschreibt.
Er wirft ihnen wörtlich die Schuld am Tod Jesu vor, „daß
Jesus von Nazareth von Euch Jüden gekreuzigt und verdampt sei“.
Nur wenn sie „den lieben gekreuzigten Jesum“ annähmen,
würde sie Gott aus dem fünfzehn hundertjährigen Elend,
in dem sie sich befinden, erlösen. Für Luther waren gerade das
1500 jährige Exil und der Verlust ihres Landes ein Exempel göttlicher
Verwerfung. Sie würden mit dem Propheten Daniel 9,24, wo ihnen eine
baldige Rückkehr in ihr Land in Aussicht gestellt wurde, vergeblich
hoffen. Darum müssten sie in sichtbarem Elend belassen werden. Luthers
Nein zu Josel war deutlich. Niemals mehr würde er sich für die
Juden einsetzen, weil sie seine Schrift von 1523, die „der ganzen
Jüdischheit gar viel gedienet hat“„so schändlich
mißbrauchen“.
Luthers Brief wider die Sabbater 1538
(WA 50, 312-337)
Dies ist auch eine politische Schrift und zwar an den Grafen Schlick in
Böhmen, der sich der lutherischen Reformation angeschlossen hatte.
Luther sah bei den mährischen Sabbatern (eine täuferische Gruppierung,
die sich an das biblische Sabbatgebot hielten) fälschlicherweise
direkte Einflüsse jüdisch - missionarischer Kräfte. Er
wirft „Juden mit jrem geschmeis“ Proselytenmacherei vor. Sie
hätten Christen verführt, sich beschneiden zu lassen und den
Sabbat zu halten. Luther nannte die Juden ein hoffnungsloses, mit Blindheit
geplagtes gottverlassenes Volk, für das es keinen Trost mehr gibt:
„…jnn diesem Elende nicht eine Fliege mit einem flügel
zisschet zum Trost“. Luther hatte eigentlich keine echten Beweise
für seinen Vorwurf, die Juden würden unter den Christen missionieren,
nutzt aber auch hier die Chance, judenpolitische Maßnahmen einem
ihm wohlgesinnten Landesherren vorzuschlagen. Luther agiert nicht nur
hier, aber gerade in der sog. „Judenfrage“ als Religionspolitiker,
der in die städtischen und territorialen Prozesse der Reformation
einwirken wollte. Luther konnte sich einfach nicht damit abfinden, dass
„dieser Weinstock [er meint hier die Juden], der nur noch zum Verbrennen
taugt, noch immer die Kraft hat, Früchte zu tragen“, und auf
Christen zu wirken imstande war,
Von den Juden und ihren Lügen (1543)
Ende 1542 schreibt Luther an Justus Jonas, „dass er in
der Juden Raserei sich gestürzt habe und noch nicht wieder emporgetaucht
sei“ (WA 53, 414). In der Tat ist es Luther, der in diesem Traktat„Von
den Juden und ihren Lügen“ wütet und rast. Der unmittelbare
Anlaß für die Schrift war die Kunde von einer jüdischen
Polemik gegen seinen Brief „Wider die Sabbater. Schon Anfang 1543
ist dieses böse Pamphlet gedruckt worden. Eine hemmungslose Dämonisierung
der Juden wird hier vorgetragen, die Saat der antijüdischen Gewalt
ausgestreut (Peter von der Osten-Sacken, 128). Alles, was er noch 1523
als üble Verleumdung zurückgewiesen hatte, dass Juden christliche
Kinder töten und Brunnen vergiften würden, führt er nun
selbst ins Felde. Und dann schreibt er Sätze wie diesen: „
Daumb wisse du, lieber Christ …das du nehest nach dem Teufel keinen
bittern, gifftigern, hefftigern Feind habest, denn einen rechten Juden,
der mit ernst ein Jude sein will“ (WA 53, 482.)
Eine Bekehrung der Juden hat Luther längst aufgegeben: „Es
sind jungen Teuffel, zur Hellen (Hölle) verdampt. Ist aber etwa was
menschliches inn ihnen, dem mag solch schreiben zu nutz und gut komen.
Vom gantzen hauffen mag hoffen, wer da will, ich habe da keine Hoffnung
…WA 53, 580)
Für Luther ist auch hier die jüdische Geschichte – gemeint
sind die fast 1500 Jahre, seit sie aus ihrem Land vertrieben wurden, Beweis
genug, dass sie „ gewislich müssen irren und unrecht faren“
– dies würde sogar ein Kind begreifen. Der Zorn Gottes läge
über ihnen und dies bedeutet, „das die Jüden gewislich
vin Gott verworffen, nicht mehr sein Volck sind. Er auch nicht mehr ihr
Gott sey“ (WA 53, S. 418). Er behauptet zudem, dass Juden nicht
nur ein falsches Bibelverständnis hätten, sondern zudem „menschlicher
Vernunft, Scham und Sinn [es]“ beraubt seien. Sie sind leibhaftige
Teufel. WA 53, S.479 . Luther spricht hier den Juden ihr Menschsein und
ihre Menschenwürde ab.
Und überdeutlich sendet er seine politische Hetzbotschaft an Fürsten
und Obrigkeiten, die angeblich immer noch nicht begriffen haben, wie sie
durch geduldete jüdische Zins- und Wucherwirtschaft ausgeraubt werden,
ohne es zu merken. „Sie (die Juden) leben bei uns zu Hause, unter
unserm Schutz und Schirm, brauchen Land und Straßen, Markt und Gassen;
dazu sitzen die Fürsten und Obrigkeit, schnarchen und haben das Maul
offen, lassen die Juden aus ihrem offenen Beutel nehmen, stehlen und rauben,
was sie wollen, das ist: sie lassen sich selbst und ihre Untertanen durch
der Juden Wucher schinden und aussaugen und mit ihrem eigenen Gelde sich
zu Bettlern machen.“(WA 53, 482).
Er fordert von den politisch Verantwortlichen ganz offen die Vertreibung
der Juden. „Summa. Lieben Fürsten und Herrn, so Juden unter
sich haben. Ist euch solcher mein rat nicht eben, so trefft einen bessern,
das ir und wir aller der unleidlichen teufflischen Last der Juden entladen
werden“ (WA 53, 527.15). Seinen Maßnahmekatalog, dem er das
christliche Mäntelchen der „scharfen Barmherzigkeit“
umhängt, liest man heute nur mit Zittern und Schrecken. Die Nazis
haben ihn dann Punkt für Punkt ausgeführt, was Luther damals
empfiehlt :
Das Verbrennen von Synagogen, die Zerstörung jüdischer Häuser,
ein Lehrverbot, die Konfiszierung von Talmud und Gebetbüchern, ein
Handelsverbot und Zwangsarbeit. [zum genauen Wortlaut siehe Beiblatt].
Für Thomas Kaufmann sind Luthers späte Judenschriften keine
maßlose antijüdische Polemik, sondern frühneuzeitlicher
Antisemitismus.
„Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“
(1543)
Mit der zweiten Schrift im Jahr 1543 (WA 53, 579-648) wird Luther zum
endgültigen Hassprediger. Er phantasiert hier in unflätiger
Weise über die „Wittenberger Judensau“ (WA 53, S. 600f),
eine Schmähung und Verhöhnung der Juden und des jüdischen
Gottesnamens in unsäglicher Weise. Seiner letzten Predigt drei Tage
vor seinem Tod fügt er für die zuhörende Grafschaft „Eine
Vermahnung wider die Juden“ an (WA 51, 195f): Sie sollen ihnen die
Taufe anbieten und bei Ablehnung: „Sollen die Herren sie vertreiben“.
Luthers Polemik ist nicht vergleichbar mit seinen Angriffen auf das Papsttum,
sondern er greift eine Glaubensminderheit an, mit der seit Jahrhunderten
– trotz Pestzeit und Kreuzzüge – immer wieder ein reger
geistiger Austausch geführt wurde und deren geistige Potenz mit half.
die Tür zur Neuzeit auf zu stoßen. Jüdische Gelehrte und
jüdische Text – Überlieferung gehören aus heutiger
Sicht mit in den reformatorischen Prozess. Luther will aber nicht nur
jüdische Menschen vertreiben, er will diesen jüdischen Anteil
der biblischen Überlieferung und Interpretation auslöschen,
jüdischen Geist vernichten. Luthers Freund und Schüler Andreas
Osiander nennt die Schmähschrift des alten Luther „schmutzig
geschrieben.“ Schweizer, Süddeutsche und Straßburger
Reformatoren distanzieren sich vom alten, antijüdischen Luther.
Die von diesen Pamphleten ausgehende Pogromstimmung brachte über
die Judenheit Leid und Schutzlosigkeit. Juden wurden zum Freiwild. Aufgrund
mehrer Eingaben erreichte Josel von Rosheim immerhin ein Druckverbot dieser
Hetzschriften für das Gebiet der Stadt Straßburg.
Resümee
Theologisch
Für Luther leben Juden unter dem Fluch Gottes, ihr Bund mit Gott
ist längst gebrochen, das Alte Testament gehört ihnen nicht
mehr. Er spricht den Juden ihr Menschsein und ihre Menschenwürde
ab. Luther arbeitet stark mit Feindbildern – Teufel, Papst, die
Türken, die Juden – die sich damals und dann im 20. Jahrhundert
propagandistisch ausschlachten ließen. Neuere Untersuchungen zum
Thema Luther und die Juden führen uns zu der Einsicht, dass die Judenfrage
keine schwarze Sonderseite in Luthers Werk bildet, sondern ein zentrales
Thema seiner Theologie bildet. Meine Vermutung: Luther ist vom Verlauf
der Reformation enttäuscht – seine anfängliche Idee, dass
das vom ihm so großartig entdeckte Evangelium Kraft seiner selbst
seinen Lauf nimmt, ist zerstört. Sein Ideal einer freien christlich-brüderlichen
Gemeinde ist in den Querelen der Reformationsprozesses verloren gegangen.
Die Reformation muss politisch durch die Landesherren geschützt werden.
(Fürstenreformation).
Die Überlebenskraft des lebendigen Judentums ist ihm eine Anfechtung.
Der geistige und religiöse Selbstbehauptungswille der Juden lassen
ihn an Gott verzweifeln. Nach seiner Schriftauslegung kann es sie gar
nicht mehr geben. Aber sie sind gegenwärtig, hoffen wie nie zuvor
auf ihren Messias. Darum seine Wut auf die Juden. Hinzu kommen persönliche
Ängste, von jüdischen Ärzten vergiftet zu werden.
Politisch
Luther schlägt er eine Judenpolitik vor, die auf Gefahrenabwehr und
Vertreibung hinausläuft. Wer sie als Obrigkeit nicht befolgt, macht
sich vor Gott schuldig. Er fordert die Landesherren gerade in der Judenfrage
offen zum Rechtsbruch auf: Verbot der öffentlichen Straßen
- Missachtung des kaiserlichen Schutze von jüdischem Eigentum (Juden
waren kaiserliche Kammerknechte). Für die Juden war die Reformation
Luthers eine Katastrophe. Karl V. erließ allerdings ein Jahr später
auf dem Reichstag in Speyer 1544 das berühmte Judenprivileg.
Die Klagen der Juden, von Josel in Speyer vorgetragen: Aufgezählt
wurde, dass man sie „gewaltigelich, fraventlich und muetwillig an
ihren persohnen, leiben, haab und güettern mit tottschlagen, rauben,
wegfüren, außtreibung ihrer heußlichen wohnungen, versperung
und zerstörung ierer schuellen und sinagogen, deßgleichen an
gelaiten und zollen belaidigt und beschwerdt“, dass man sie damit
am Erwerb ihres Unterhaltes hinderte und dass man sie hinderte, das Kaiserliche
Kammergericht oder andere Gerichten anzurufen. Hinzu kam, dass die Juden
in einigen Städte des Reiches „nit allain ierer haab und güetter
entsetzt, geblündert und außgetriben, sondern auch ohne alle
unser rechtliche erkhanndtnuß gefangen, gepeiniget, vertilgt und
umb leib und guett“ wurden. (Quelle: historicum.net)
Aus dem Speyrer Judenprivileg: Niemand sollte fortan das Recht haben,
ihre Schulen und Synagogen zu schließen, sie daraus zu vertreiben
oder sie an ihrem Gebrauch zu hindern. Wer Juden im Widerspruch zum verkündeten
kaiserlichen Landfrieden an Leben oder an Hab und Gut schädige oder
sie beraube, soll von jeder Obrigkeit bestraft werden. Jeder Jude soll
das Recht haben, seinen Geschäften im Reich nachzugehen, und jede
Obrigkeit soll ihm Geleit gewähren und ihn nicht mehr als bisher
mit Zoll- oder Maut belasten. Juden brauchen außerhalb ihrer Wohnorte
keine Kennzeichen zu tragen.
Die Regeln dieses Privilegs standen im direkten Widerspruch zu den Forderungen,
die Martin Luther in seiner judenfeindlichen Spätschrift ein Jahr
zuvor aufgestellt hatte. Josel von Rosheim kann als Urheber dieser Magna
Charta für die Judenheit betrachtet werden. Wieder einmal hatte sich
Karl V. –- als Beschützer der Judenheit erwiesen.
Josel wird später in seinen Memoiren ( Sefer Ha Miknah = Buch des
Erwerbs) notieren: „Auf wunderbare Weise siegte er [Kaiser Karl]
und errette die israelitische Nation von der Macht dieses neuen Glaubens,
den der Mönch Martin Luther genannt, errichtet hatte – der
Lo Toher = Unreine – Er suchte alle Juden, jung und alt, zu vertilgen
und zu ermorden.“ (S. Stern, S. 176)
III. Zur Luther - Rezeption seit dem Ersten Weltkrieg und im Dritten
Reich
Rabbiner Reinhold Lewin (1888 – 1943) in Breslau hatte 1911 die
erste profunde Forschungsarbeit zu dem Thema „Luther und die Juden“
vorgelegt. Sie war sogar von der ev. Fakultät Breslaus preisgekrönt
worden. Mit prophetisch mahnenden Worten schloss er seine Dissertation:
»Die Saat des Judenhasses, die er [Luther] darin [in: Von den Juden
und ihren Lügen und Vom Sehern Hamphoras] ausstreut, schießt
zwar zu seinen Lebzeiten nur verkümmert empor. Sie geht aber darum
nicht spurlos verloren, sondern wirkt noch lange durch die Jahrhunderte
fort; wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt
das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.« (Reinhold
Lewin, Luthers Stellung zu den Juden, Berlin 1911, Nachdr. Aalen 1973,
S.110). (Zitat bei Kaufmann S. 168)
.
Die Saat des Lutherischen Judenhasses ging vor allem und in der lutherisch-protestantischen
Tradition auf. Die Mehrheit der Theologen nach Luther ist der Überzeugung
gewesen, dass seit der Ankunft Christi auf Erden die Juden als Juden keine
Zukunft mehr haben.
Auch für die theologischen Ausleger des Alten Testaments war das
Judentum gegenüber dem Christentum noch weit bis ins 20. Jahrhundert
hinein eine unterlegene Religion.
Der protestantische Antijudaismus hat sicher nicht unmittelbar in den
letztlich tödlichen Judenhass der Nationalsozialisten geführt.
Hier müssen andere gesellschaftliche Kräfte wie der völkisch-rassische
Antisemitismus genannt werden. Aber die christliche Judenfeindschaft und
die „Unheilsspuren Luthers“ (so Karl Barth 1962) wirkten wie
Brandbeschleuniger. Für die Nationalprotestanten Ende des 19. Jahrhundert/Anfang
20. Jahrhunderts hatte Luther das Germanentum von Roms Herrschaft befreit.
Den Ideologen der Alldeutschen und Völkischen, deren Parolen auch
im protestantischen Bürgertum Wurzeln schlagen konnten, diente Luther
als Stichwortgeber:
„Ohne Juda, ohne Rom, wird erbaut Germaniens Dom“. Luther
galt vielen Deutschen und vor allem Protestanten als nationaler Mythos,
als das Urbild des germanischen Wesens; antijüdisch und antirömisch.
Luther war d i e identitätsstiftende Überperson der Deutschen.
Und zur konfessionellen Integrations- und Bindekraft des Protestantismus
gehörte zunehmend die Judenfeindschaft. Die protestantische Theologie
und Kirche hat sich in dieser Zeit nie für die Anerkennung des Judentums
bereit gefunden, sondern sich antisemitischen Strömungen weit geöffnet.
(Christian Wiese, 133). Der antisemitische Protestantismus ist älter
als der Nationalsozialismus!
1933 feierte Protestanten gemeinsam mit den Nazis Luthers 450. Geburtstag
und die fast in Vergessenheit geratenen lutherischen „Judenschriften“
wurden auflagenstark als Sonderausgaben gedruckt. Sie bekräftigten
den ohnehin schon vorhandenen protestantischen Antisemitismus und verliehen
ihm zusätzliche Legitimationen. Die Deutschen Christen, die sich
später Lutherdeutsche nannten, sahen in Hitler den Vollender der
Reformation und priesen ihn als größten Antisemiten. 1937 wurde
anlässlich der Münchener Ausstellung „Der Ewige Jude“
im Residenztheater eine öffentliche Rezitation aus Luthers Judenschriften
dargeboten.
1939 war in der Lutherstadt Eisenach das „Institut zur Erforschung
und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche
Leben“ gegründet worden, in dem namhafte protestantische Theologen
und Universitätsprofessoren mitarbeiteten. Sie brachten u.a. ein
„entjudetes“ Neues Testament heraus und lehrten die arische
Abstammung Jesu. Luther galt diesen Theologen als Kronzeuge für den
Antisemitismus.
Im Land der Reformation brannten 1938 die Synagogen.
Der württembergisch-lutherische Bischof Theophil Wurm zum Novemberpogrom
1938
Bischof Wurm geißelte in einem Brief vom 6. Dezember 1938 an den
damaligen Reichsjustizminister Gürtner die Synagogenbrandstiftungen
in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 als Unrecht, das »weite
Volkskreise ... in ihren sittlichen Empfindungen verletzt« habe.
Gleichzeitig bekannte er sich freimütig zur christlich-antisemitischen
Tradition des späten 19. Jahrhunderts:
»Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum
als ein gefährliches Element zu bekämpfen. Ich habe von Jugend
auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf
Stoecker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem,
sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für
zutreffend gehalten.« ( Röhm-Thierfelder, Juden-Christen-Deutsche,
Band 1, 46)
Auch in Frankenthal brannte in der Pogromnacht das jüdische Gotteshaus
und 23 jüdische Männer wurden ins KZ Dachau verschleppt. Vergessen
war die brüderliche Eintracht von Juden und Christen bei Einweihung
der Frankenthaler Synagoge im Jahr 1885.
Die Stadt wies einen ganz großartigen Flaggenschmuck auf, ein erfreuliches
Zeichen der Toleranz, auf welches der Bezirksrabbiner Dr. Salvendi in
seiner Festrede mit Genugtuung hinwies. "[Allgemeinen Zeitung des
Judentums" vom 8. September 1885: "Aus Frankenthal, 29. August
(1885)]
Sicher hatten die Brandstifter bei ihrer Schandtat nicht an Luther gedacht.
Aber nirgendwo gab es in unserer Evangelischen Kirche einen offiziellen
Protest – auch für unsere Kirche waren jüdische Menschen,
ganz im Sinne Luthers, zu Volksfeinden geworden, denen man in ihrer Not
Solidarität verweigerte. Rabbiner Reinhold Lewin (s.o.) wird 1943
mit seiner Frau und den beiden Kindern aus Breslau deportiert und in Auschwitz
ermordet.
IV. Zum kirchlichen Umkehrprozess nach 1945
Seit 1952 veranstalten die Gesellschaften für Christlich- Jüdische
Zusammenarbeit im März eines jeden Jahres die Woche der Brüderlichkeit.
Ihr Ziel war von Anbeginn die Förderung des jüdisch-christlichen
Dialogs sowie die Aufarbeitung des Holocaust. Es waren nach dem Krieg
überlebende Juden, die mit uns Deutschen wieder das Gespräch
suchten.
Lange, zu lange haben wir Christen für den Umkehrprozess gebraucht,
um endlich sagen zu können: Juden gelten uns heute nicht mehr als
von Gott verstoßen, sie bleiben – in biblischer Sprache gesprochen
– Gottes erste Liebe. Wir haben sogar in Kirchenverfassungen –
auch in unserer - jeglichem, auch theologischem Antijudaismus eine Absage
erteilt. Damit wurde allerdings, ohne es ausdrücklich zu betonen,
eine zentrale Grund- und Glaubensüberzeugung Luthers über Bord
geworfen.
- Wir haben uns - Gott sei Dank - auch in anderen zentralen Einsichten
vom Übervater Luther emanzipiert: Wir Protestanten können
heute aus Überzeugung sagen:
- Das Neue Testament ist als eine Sammlung jüdischer Schriften
des ersten Jahrhunderts zu lesen.
- Das AT hat zwei Fortsetzungs- und Auslegungsgeschichten, eine jüdische
und eine christliche.
- Wir erleben es als Gewinn, mit Juden das AT zu lesen und von ihnen
im Gespräch zu lernen.
- Ordinierte Frauen im Predigtamt als Pfarrerinnen oder gar als Dekane
oder Bischöfe sind eine Selbstverständlichkeit
Dies alles wäre für Luther unvorstellbar!
Unser kapitalvermehrendes Banken- und Börsenwesen würde
er allerdings zutiefst missbilligen.
Zum Schluss
Luther mutiges Bekenntnis vor dem Kaiser im April 1521 in Worms war sicher
eine Sternstunde in der abendländischen Freiheitsgeschichte. Eine
Epoche der reformatorischen Bewegungen wurde eingeleitet, die nicht nur
die religiöse Welt grundlegend veränderte. An diese reformatorischen
Bewegungen zu erinnern, kann Grund zu feiern sein.
Dabei muss es uns aber gelingen, gegenüber Luther eine kritische
Distanz zu wahren. Luther hat die Freiheit, die er für sich in Anspruch
nahm, vielen anderen, die auch Reformen wollten, vorenthalten, insbesondere
seinen jüdischen Mitmenschen. Wir sollten daher die Schattenseiten
des Reformators nicht aus den Augen verlieren.
Bei aller Reformationsdekade - Feierei wünschte ich mir mehr Demut
und Selbstkritik. So viel Schreckliches ist in Luthers Namen passiert.
------------------------------------------------------
Literatur:
Die Werke Luthers (insgesamt rund 80 000 Seiten in 127 Bänden) sind
in der sogenannten Weimarer Ausgabe (WA) von 1883 bis 2009 zusammengefasst
worden. [WA 53 bedeutet z.B. Band 53]. Der größte Teil ist
digitalisiert und im Internet frei zugänglich:
http://www.lutherdansk.dk/WA/D.%20Martin%20Luthers%20Werke,%20Weimarer%20Ausgabe%20-%20WA.htm
http://de.wikisource.org/wiki/Martin_Luther
Selma Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen
Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart 1959 [Neudruck München
1973]
Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht
anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“(1530/31),
Stuttgart 2002
Micha Brumlik, Martin Luther und die Juden – eine politische Betrachtung
(Vortrag Januar 2012)
http://www.imdialog.org/bp2012/06/luther_juden.pdf
Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu
ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011 [sehr speziell]
Ders., Luthers Juden, Stuttgart 2014
------------------------------------------------------
Interne Links
H.
Foth: Martin Luther und Juden. Ein dunkles Kapitel der Reformation
Stefan
Meißner: „Wenn die Jüden wieder in ihr Land kämen,
wollt´ ich…“
Bild: Wikipedia Creative Commons
Text: mit freundlicher Genehmigung des Autors
|