Judenfeindliche Äußerungen in der Antike und ihre Nachwirkungen

von Gabriele Gierlich

 

Titus-Bogen in Rom: Plünderung des Jerusalemer Tempels

In den Historien (V,2-5) des römischen Historikers Tacitus lesen wir einen Exkurs über das jüdische Volk, seine Herkunft, seine Religion und seine Bräuche. Anlass, auf die Juden zu sprechen zu kommen und sie näher zu charakterisieren, ist für Tacitus der jüdische Krieg, den die Römer zunächst unter dem Oberbefehl Vespasians begannen und der dann von dessen Sohn Titus weitergeführt wurde. 70 n. Chr. endete der Krieg mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Der bewaffnete Kampf der Juden für ihre Befreiung aus der römischen Herrschaft setzte einen Schlusspunkt unter das bis dahin weitgehend erträgliche Verhältnis zwischen Juden und Römern.

Die Ausführungen des Tacitus über die Juden sind ganz und gar nicht freundlich und man kann sagen, dass wir in seinem sog. Judenexkurs sicher die böswilligste Fassung des Exodusgeschehens vor uns haben. Tacitus schildert als Ausgangsversion des Auszugs der Juden aus Ägypten eine dort herrschende Seuche. Der ägyptische König befragt daraufhin das Orakel, was zu tun sei. Dieses befiehlt ihm das Land von diesem Geschlecht (gemeint sind die Juden) zu reinigen, da es den Göttern verhasst sei. Die Kranken werden nun in die Wüste getrieben. Moses macht sich daraufhin zu ihrem Führer, bringt sie nach Palästina und gründet dort Jerusalem. Tacitus hat sich für seine Schilderung der jüdischen Herkunft mit Sicherheit auf Material gestützt, das griechisch-ägyptischem Milieu entstammte und judenfeindlich war.

Um 300 v. Chr. verfasst der griechische Philosoph und Kulturhistoriker Hekataios von Abdera, der selbst eine Reise in das zu dieser Zeit unter griechischer Herrschaft stehende Land am Nil unternommen hatte, ein Werk über Ägypten. In diesem Zusammenhang erwähnt er den Exodus der Israeliten aus Ägypten. Auch er berichtet davon, dass sie von den Ägyptern vertrieben wurden, weil sie von einer Krankheit befallen waren. Dass die Verknüpfung des Exodus mit dem Ausbruch einer Epidemie die Lesart gewesen sein muss, die in Ägypten verbreitet war, zeigt weiterhin das kurz nach Hekataios erschienene Geschichtswerk des ägyptischen Priesters Manetho, der in der 1. Hälfte des 3. Jh. v. Chr. eine ägyptische Geschichte in griechischer Sprache verfasste. Das Originalwerk ist verloren, aber wir kennen Fragmente seiner Schrift aus dem Werk des jüdischen Schriftstellers Josephus Flavius (1.Jh. n. Chr.), der sich in einer Schrift mit dem Titel 'Gegen Apion' mit antijüdischen Vorwürfen auseinandersetzt, darunter auch mit der Erzählung des Manetho. Mit Manetho liegt uns damit die erste ägyptische Quelle zu diesem Überlieferungskomplex vor, der vorher nur in der Bibel behandelt wird.

Die Frage, die sich stellt, ist, warum die Ägypter sich jetzt auf einmal mit den Juden befassen und warum die Juden mit einer Seuche in Verbindung gebracht werden. Der ägyptische Priester Manetho spricht in seiner Fassung des Exodus nicht wie Tacitus von den Juden, sondern von den Hyksos. Mit dem Namen Hyksos werden Reitervölker aus dem syrisch- palästinensischen Raum bezeichnet, die in der sog. 2. Zwischenzeit (ca. 1650 v. Chr.) im Norden Ägyptens einfielen und dort ihre Herrschaft etablierten. Es war die erste Fremdherrschaft, mit der die Ägypter konfrontiert wurden und die sie als traumatisch empfanden. Nach etwa hundertjähriger Herrschaft der Hyksos gelang es den Ägyptern, diese aus dem Land zu jagen. Nach ägyptischen Zeugnissen soll nach dem Sieg über die Hyksos im Land am Nil eine Seuche ausgebrochen sein. Um welche Seuche es sich genau handelt, kann aufgrund der Quellenlage allerdings nicht geklärt werden. Die Rede ist von der „asiatischen Krankheit“, da das syrisch-palastinensische Gebiet von den Ägyptern Asien zugerechnet wurde und die Krankheit offenbar von dort nach Ägypten gekommen war.

In der Exodusversion, die uns bei Manetho vorliegt, sind die Hyksos von Aussatz befallen, mit dem sie die Ägypter anstecken. Um die weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, werden sie an einem Ort zusammengetrieben und von der übrigen Bevölkerung separiert. Die in die Verbannung geschickten Hyksos versammeln sich um einen Anführer, der Moses genannt wird. In der Erzählung des Manetho werden also verschiedene Elemente vermengt, wie der Auszug der Israeliten aus Ägypten und die Geschichte der Hyksos. Nach Manetho ist der Exodus kein freiwilliger Entschluss der Versklavten, sondern eine gewaltsame Vertreibung seitens der Ägypter. Dass diese ihren Grund darin hatte, dass eine Epidemie in Ägypten wütete, basiert auf den Vorkommnissen der Hyksoszeit. Da die Juden in derselben Gegend wie die Hyksos siedelten, werden sie in der späteren griechisch-ägyptischen Überlieferung, wie sie sich uns bei Hekataios und Manetho präsentiert, nun ebenfalls mit dem Einsetzen einer Seuche in Verbindung gebracht, d.h. auch dieses Mal ist von den Asiaten eine Epidemie in Ägypten eingeschleppt worden.

Ein weiterer Grund, warum der jüdische Exodus für die Ägypter im 3. Jh. der Rede wert ist, mag die Erfahrung einer ganzen Reihe von Fremdherrschaften auf ägyptischen Boden sein, die etwa um 900 v. Chr. einsetzte und die, nur von kurzen Episoden einheimischer Herrscher unterbrochen, bis zum Ende des ägyptischen Staates unter römischer Herrschaft fortdauerte. Was die Hyksos sieben Jahrhunderte früher initiiert hatten, hatte sich nach ägyptischer Weltsicht zu einem dauerhaften Albtraum ausgewachsen: Sie wurden im eigenen Lande fremdbestimmt. Um 300 v. Chr., als Hekataios schrieb, war gerade die persische Fremdherrschaft von der der Griechen abgelöst worden. Die Regierungszeit der Perser war im Land am Nil besonders verhasst gewesen und deren Wunden waren frisch und noch lange nicht vernarbt. Seit der Perserzeit war auf ägyptischer Seite eine regelrechte Xenophobie zu beobachten.
Doch was hat das mit den Juden zu tun? Zweierlei: Die Perser galten in den Augen der Ägypter ebenfalls als „Asiaten“, d.h. sie kamen aus derselben Gegend wie die Hyksos und die Juden, so dass sich die Ägypter einer wiederholten Invasion durch „Asiaten“ gegenübersahen. Außerdem wurden die in Ägypten zur Perserzeit lebenden Juden der Kollaboration mit den Persern verdächtigt. Die Perser, die sich als Besatzungsmacht gerierten und die nach ägyptischen Berichten die Tempel im Land zerstört haben sollen, verschonten nämlich den Tempel der jüdischen Gemeinde im Süden Ägyptens in Elephantine und traten als deren Schutzmacht auf. Da die jüdische Gemeinde zudem Söldner für die Garnison von Elephantine stellte und die Söldner natürlich diejenigen waren, mit denen die Perser militärisch das Land beherrschten, wurde den Juden vorgeworfen, sie machten gemeinsame Sache mit den Unterdrückern. Die Juden, die eine wichtige Bevölkerungsgruppe in Ägypten stellten und die auch von den neuen griechischen Herrschern Förderung und Unterstützung erfuhren, waren ins Visier der Ägypter geraten. So trafen die Juden hier eigentlich Vorwürfe von ägyptischer Seite, die diese auch gegen andere Ausländer richteten und die Zeichen für die allgemeine Fremdenfeindlichkeit der ägyptischen Spätzeit waren. Die in griechisch-ägyptischen Kreisen kursierende Darstellung des Exodus arbeitete im Grunde die Erfahrungen aus der Hyksoszeit und der persischen Besatzung auf.

Doch sollte diese Version von den mit ansteckender Krankheit behafteten Juden noch weit reichende Folgen haben. Sie wurde durch die Römer weitertradiert, die mit den Juden in militärischer Auseinandersetzung standen. Tacitus kommt in der Nachwelt sicherlich großes Gewicht zu, mehr als den Schriften des Manetho, der in der Überlieferung des Josephus wenig Einfluss im Mittelalter hatte. Die Geschichte von der in Ägypten ausgebrochenen Seuche und der daraufhin einsetzenden Vertreibung der Juden findet sich verschiedentlich bei antiken Autoren, auch bei dem christlichen Schriftsteller Orosius, der im 5. Jh. n. Chr. eine Geschichte gegen die Heiden als Fortsetzung des hl. Augustinus schrieb. Da Orosius aber im Mittelalter von eminenter Bedeutung war und in 245 Handschriften belegt ist, wird man hier einen Überlieferungsstrang verfolgen können, dessen Nachwirken nicht unterschätzt werden darf.

Gerade die Christen, die sich als das neue Heilsvolk Gottes begriffen, trugen damit zu einer Abwertung des Judentums bei. Die Juden hatten den Messias nicht nur nicht erkannt, sondern sogar ans Kreuz geschlagen. Bereits im Johannesevangelium (8,44-47) heißt es in Bezug auf die Juden: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ Diese im wahrsten Sinne des Wortes Verteufelung der Juden schrieben die christlichen Apologeten fort, deren christliche Verteidigungsschriften zunächst gegen ihre feindliche heidnische Umwelt gerichtet waren. Aber schon bald nahmen die Anklageschriften gegen die Juden zu und die christlichen Anfeindungen wurden von solchen Bibelstellen wie der oben zitierten genährt.

Die Vorwürfe, die die Christen gegen die Juden erhoben, waren im Grunde schlimmer als die der Heiden, die sich mit dem Judentum auseinander setzten. Im Mittelalter hochpopulär als Polemiker gegen die Juden war Johannes Chrysostomus, der wortgewaltig gegen die Juden predigte. Er lebte im 4./5. Jh. und wurde 398 Bischof von Konstantinopel. So wetterte er: „Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr Hand an den Herrn gelegt habt, weil ihr das kostbare Blut vergossen habt, gibt es für euch keine Besserung, keine Vergebung, keine Entschuldigung.“ All seine Beschimpfungen fasst er in der Feststellung zusammen, die Juden seien das „Verderben und die Krankheit der ganzen Erde“ (Hdb. zur Gesch. d. Juden in Europa, S. 371). Hier haben wir wieder die Verbindung von Juden und Krankheit, auch wenn es von Chrysostomus in metaphorischem Sinn gemeint ist. Das menschliche Verhaltensmuster, das sich bei Chrysostomus Bahn bricht, dem Anderen, Fremden mit Misstrauen zu begegnen, es auszugrenzen, und die eigenen Ziele als „gesund“ einzuschätzen im Gegensatz zu den „kranken“ Ideen der Anderen, ist leider kein Phänomen, das auf die Antike beschränkt ist, sondern beweist, wie viel „Minderheitenhass potentiell in jeder Gesellschaft steckt.“ (Martin/Schulin S.8)

Nicht nur in den christlichen Predigten und Schriften, sondern sogar in der Gesetzgebung wirkten sich die Vorurteile gegenüber den Juden aus. Dies begann ebenfalls schon in der christlich geprägten Spätantike. Im Codex Theodosianus, der Sammlung verschiedener Erlasse römischer Kaiser, die unter Kaiser Theodosius II. zusammengestellt wurde, befindet sich u.a. ein Schreiben des Kaisers Gratian, der von 367-383 n. Chr. römischer Herrscher war. Darin führt Gratian folgendes aus: „Auch sollen die Schandtaten jener bestraft werden, die die Würde der christlichen Religion und ihres Namens verleugnen und sich mit den ansteckenden Seuchen der Juden verunreinigen.“(Schoeps/Wallenborn S.94)

Aus den Religionsgesetzen des Codex Theodosianus lassen sich eine Menge Belege entnehmen, wo in Verbindung mit den Juden Termini wie „Ansteckung“, „Besudelung“, „Entstellung“, „Pest“ auftauchen. Die Begriffe, hier in übertragenem Sinn gebraucht, um die jüdische Religion abzuqualifizieren, sollten sich jedoch bald als Wegbereiter für diskriminierendes und unmenschliches Handeln erweisen. Von dieser abfälligen Sprache der „Krankheit“ ist es dann nämlich nicht weit, konkrete Forderungen nach einer bestimmten Kleidung der Juden oder bestimmten Abzeichen an der Kleidung aufzustellen, um sich besser von ihnen abgrenzen und fernhalten zu können. Wie es im Mittelalter üblich war, Menschen, die eine ansteckende Krankheit wie Pest und Lepra hatten, zu verpflichten, dies an ihrer Kleidung durch besondere Abzeichen kenntlich zu machen, um Ansteckung zu verhindern, so forderte auch das IV. Laterankonzil (1215) von den Juden, dass sie sich in ihrer Kleidung von den Christen unterscheiden müssten, damit man sie sofort erkennen könne.

Noch schwer wiegendere Folgen sollte der Ausbruch von Seuchen und Epidemien im Mittelalter haben. Auf der Suche nach den Schuldigen für diese Katastrophen wurden schnell die Juden als deren Verursacher verleumdet. Hier werden dann die „ansteckenden Seuchen der Juden“, wie sie Chrysostomus nennt, nicht mehr übertragen, sondern nur noch konkret verstanden. So wird im 14. Jh., als der Aussatz in Frankreich wütet, sofort eine Verschwörung der Juden propagiert, die Brunnen, Quellen und Flüsse vergiftet hätten, um die Christen zu töten. Der gegen die Juden vorgebrachte Vorwurf, sie seien Verbreiter von Krankheiten und Seuchen war nicht nach Beendigung der Seuchenjahre zu Beginn des 14. Jh. ausgerottet, sondern zeitigte weitere Folgen, als Mitte des 14. Jh. in Europa die Pest ausbrach: Jetzt waren die Juden auch für diese Seuche verantwortlich und die Folge waren die schlimmsten anti-jüdischen Pogrome des Mittelalters.

Das seit der Antike übliche Vokabular, das in Zusammenhang mit den Juden von „Ansteckung, Verunreinigung, Beschmutzung und Pest“ spricht, kann auch als der unselige Vorläufer der „Vorstellung vom Reinerhalt der Rasse“ und der Gefahr der „Rassenschande“ des 20. Jh. gelten. Karl Leo Noethlichs weist „auf die Parallele spätantiker Gesetzgebung zur NS- Rassenideologie im sprachlichen Bereich“ hin (S.126) und fasst zusammen: „So wenig ... in der Judenbehandlung Spätantike... und NS-Zeit inhaltlich vergleichbar sind, erweisen sich die Mittel und das Ziel der Isolierung auf der Ebene der Gesetzgebung als weitgehend gleich“ (S.131). Diese abwertende Sprache, die mit Kategorien wie „gesund“ und „krank“ arbeitet, ist letztlich auf die Exoduserzählungen zurückzuführen, die in griechisch-ägyptischem Milieu entstanden sind.

 

Literatur:
J. Assmann, Ägypten- eine Sinngeschichte, München-Wien 1996
Ders., Moses der Ägypter, München-Wien 1998
C. Ginzburg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Frankfurt/M.1993
Iacobus Gothofredus, Codex Theodosianus 16,8,1-29, übers. u. bearb. V. R. Frohne, Bern-Frankfurt/M.-New York-Paris 1991 (Europ. Hochschulschriften, Reihe III,Bd.453)
H. Heinen, Ägyptische Grundlagen des antiken Antijudaismus, in: Trierer Theologische Zeitschrift 101, 1992, S.124ff.
E.-V. Kotowski/J. H. Schoeps/H. Wallenborn, Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd.2, Darmstadt 2001, S.370f.
J. Maier, Geschichte des Judentums im Altertum (Grundzüge), Darmstadt 2.Aufl.1989
B. Martin/E. Schulin (Hrsg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 2. Aufl.1982
K.L. Noethlichs, Das Judentum und der römische Staat, Darmstadt 1996
P. Schäfer, Die Manetho-Fragmente bei Josephus und die Anfänge des antiken „Antisemitismus“ in: Collecting Fragments-Fragmente sammeln, hrsg. v. Glenn W. West (Aporemata Bd.1) Göttingen 1997, S.186ff.
Th. Schneider, Ausländer in Ägypten während des Mittleren Reiches und der Hyksoszeit, Teil I, Wiesbaden 1998 (Ägypten und Altes Testament Bd.42)
J.H. Schoeps/H. Wallenborn (Hrsg.), Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd.1, Darmstadt 2001

Linktipps

Gabriele Gierlich: Monotheismus als Ursprung der Gewalt? Eine Einrede (Aufsatz der gleichen Autorin)

Gabriele Gierlich: Joseph in Ägypten. Die Josephsgeschichte in der Bibel und in Thomas Manns Josephsromanen (Aufsatz der gleichen Autorin)

 

Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Titusbogen#/media/Datei:Rom,_Titusbogen,_Triumphzug.jpg (gemeinfrei; CC BY-SA 3.0)