„Jischor - gedenke!“
Von Sinn und Unsinn des Erinnerns

von Stefan Meißner


Glaswürfel in der Mannheimer Fußgängerzone

Was in den Jahren der Nazidiktatur in Deutschland geschah, gehört zum Schrecklichsten, was Menschen je einander angetan haben. Diese Epoche des Terrors und der Erniedrigung nicht aus den Augen zu verlieren, sondern sie im Gedächtnis der Menschheit zu bewahren ist ein moralischer Imperativ, der vor allem uns Deutsche verpflichtet. Dieser Imperativ ist jedoch nicht selbstevident, er bedarf der Begründung. Deshalb soll hier nach den Motiven des Erinnerns gefragt werden, nach seinem Sinn, aber auch nach den Widerständen, die sich gegen das Erinnern regen, nach den Gefahren und Grenzen des Erinnerns. Beginnen möchte ich jedoch mit einem kleinen Rückblick auf die Geschichte des Gedenkens an den Holocaust und seine Opfer.

Kleine Geschichte des Erinnerns

In den ersten Jahren nach 1945 dominierte weithin das Wegsehen und Verdrängen des Geschehenen. Die wenigen zaghaften Versuche, das Unrecht während der Nazizeit zu benennen und aufzuarbeiten, wurden oft entwertet durch hilflose Versuche, sich zu selbst rechtfertigen und die Schuld anderen anzulasten. Die Schreckensherrschaft erschien als ein Verhängnis, an dem man selbst keinen entscheidenden Anteil hatte. Im Schulunterricht wurde das 3. Reich meist ausgeklammert. Zu frisch waren die Erinnerungen, als dass man unbefangen über sie hätte sprechen können. Auch war mancher Erwachsener persönlich zu sehr involviert in das Geschehen, als dass er mit der jüngeren Generation hätte darüber sprechen wollen.

Diese Sprachlosigkeit angesichts des Grauens änderte sich schlagartig, als die 1968er-Generation die Leichen im Keller der eigenen Vergangenheit entdeckte. Die unaufgearbeitete Geschichte ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, war Teil einer Rebellion, in der die Kinder des deutschen Wirtschaftswunders gegen die materialistische Werthaltung ihrer Eltern opponierte: Wie in der offiziellen Staatsideologie der DDR war Antifaschismus immer zugleich Antikapitalismus, damit aber der Ungeist immer auf Seiten „der Anderen“. Man selbst hatte damit nichts zu tun. Eine echte Auseinandersetzung, die die eigene Schuldverstickung eingeschlossen hätte, blieb damit aus.

Gedenktafel aus der DDR-Zeit am historischen Rathaus von Jüterbog (Brandenburg)

In den 70er und 80er Jahren trugen vor allem TV -Serien dazu bei, den Massenmord an den Juden ins allgemeine Bewusstsein der Bundesbürger zu rücken. Auffällig ist, dass die entscheidenden Impulse von außen kamen und nicht aus Deutschland selbst. So ermöglichte der US-amerikanische Vierteiler „Holocaust“ (1979), der das Schicksal der deutschen Juden anhand einer Familiengeschichte darstellte, erstmals eine Identifizierung mit dem Leiden der Opfer. Anders als diese Spielserie setzte „Shoa“ (1985) von Claude Lanzmann auf die akribische Dokumentation des Geschehens, indem er Zeitzeugen - Täter wie Opfer gleichermaßen - befragte.

In den 90er-Jahren löste das Buch des Amerikaners Daniel J. Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) eine breite gesellschaftliche Debatte über den Holocaust aus. Seine These, dass die Verbrechen an den Juden nicht durch eine kleine fanatische Machtelite begangen wurden, sondern dass daran viele „ganz normale Deutsche“ beteiligt gewesen sind, löste ähnliche Abwehrreaktionen aus wie die von Jan Philipp Reemtsma initiierte Ausstellung "Vernichtungskrieg“, die die „Verbrechen der Wehrmacht“ (1999) thematisierte. Beiden Projekten ist gemeinsam, dass sie aufzeigten, wie weitreichend die Schuldverstrickung der Deutschen im Dritten Reich war.

Gleichzeitig gab es in diesen Jahren aber auch den erkennbaren Wunsch danach, einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zu ziehen und zur Normalität zurück zu kehren. Im mit den Namen Joachim Fest und Ernst Nolte verbundenen „Historiker-Streit“ wurde die Frage diskutiert, ob und inwiefern die Untaten der Nazis einzigartig sind bzw. diese durch historische Vergleiche relativiert werden können und dürfen. Die nachfolgende Debatte zeigte einerseits, dass es in der historischen Frage nach dem Holocaust keine dogmatischen Setzungen geben darf, andererseits aber auch, dass es von einer Relativierung zur Leugnung von Auschwitz manchmal nur noch ein kleiner Schritt ist.

Dass das Erinnern zuweilen interessengeleitet ist, hob Martin Walser hervor, als er in seiner Rede anlässlich der Verleihung des deutschen Friedenspreises 1998 vor einer „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ warnte. Damit provozierte er den energischen Protest von Ignaz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, und es begann eine der zahlreichen Debatten um die deutsche Geschichte (vgl. z.B. auch den Vorstoß M. Homanns), die ihren Hintergrund in der Wiedervereinigung Deutschlands hatten. Insgesamt lässt sich für die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts eine gestiegene Skepsis gegenüber dem Erinnern erkennen. Es erscheint mir deshalb angebracht, zunächst die Gründe für solche Widerstände zu eruieren, bevor ich positiv die Notwendigkeit des historischen Gedenkens auch im 21. Jhd. herausarbeite.

Widerstände gegen das Erinnern

Gedenktafel an der ehem. Synagoge in Germersheim (Rheinland-Pfalz)

Die weit verbreiteten Widerstände gegen das Erinnern an das schmerzlichste Kapitel deutscher Geschichte sind psychologisch verständlich. Es ist ein Selbstschutz unseres historischen Bewusstseins, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Aber wer nur ein wenig mit den Mechanismen unseres Seelenlebens vertraut ist, der weiß: Was in das Unterbewusste abgedrängt wird, kommt irgendwann mit umso größerer Macht an die Oberfläche zurück.

Für uns Deutsche, vor allem die ältere Generation, die die Nazizeit noch bewusst miterlebt hat, beinhaltet das Erinnern an die Opfer das Eingeständnis des eigenen Versagens. Da ist zunächst die schmerzliche Einsicht, dass das Dritte Reich ideologisch-weltanschaulich, aber auch politisch-militärisch in die Katastrophe geführt hatte. Eine noch viel größere Schmach aber bedeutet die Einsicht, moralisch gescheitert zu sein, Jahre lang in kollektiver Verblendung einer menschenverachtenden Ideologie nachgelaufen zu sein.

Es gibt außerdem die ebenfalls psychologisch verständliche Tendenz, dass jemand seine eigene Leidensgeschichte erzählt, sobald er mit der „Story“ anderer Menschen konfrontiert wird, nach dem Motto: „Auch wir Deutschen haben gelitten“. Aber wer dergestalt mit dem Aufrechnen von Unrecht beginnt, flieht lediglich vor der bedrückenden Realität der eigenen Schuld. Er will sie minimieren, indem er die angebliche (Mit- )Schuld der anderen Seite maximiert.

Wer an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnert, erinnert damit an Angehörige einer religiösen und gesellschaftlichen Minderheit, die über Jahrhunderte hinweg die Identität der weithin christlichen Mehrheitskultur in Frage stellte. Gerade Gesellschaften, in denen die Fähigkeit zur Selbstkritik unterentwickelt ist, neigen dazu, eine solche Infragestellung dadurch zu beseitigen, dass sie ihre Wortführer beseitigen. Im Erinnern an die jüdischen Opfer aber lebt die Negation der eigenen Identität wieder auf und erzeugt „ungute Gefühle“.

Es gibt im Blick auf die jüdischen Opfer auch die infame Unterstellung: „Weil diese Menschen verfolgt und ermordet wurden, müssen sie etwas getan haben, was dies rechtfertigt.“ In diese Kategorie fallen etwa Versuche, die Juden als Verbündete der Alliierten und somit als Kriegsgegner hinzustellen, die zu bekämpfen man dann natürlich jedes Recht hatte. Auch die Frage Martin Homanns, ob man nicht die Juden im Blick auf ihre (angebliche) Beteiligung an den Verbrechen des Bolschewismus als „Tätervolk“ bezeichnen könne, geht in diese Richtung. In allen diesen Fällen liegt eine fatale Verlagerung der Schuld von den Tätern auf die Opfer vor, die unter keinen Umständen geduldet werden kann.

Alle diese Verweigerungsstrategien führen in die Sackgasse. Sie würden die Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat, nur noch vergrößern. Es gibt im Blick auf das, was an Schrecklichem in Deutschland geschehen ist, deshalb nur eine Konsequenz: Wir müssen uns dem Schmerzlichen stellen, es zulassen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Doch was sind die richtigen Schlüsse?

Gefahren beim Erinnern

Wie bereits im Zusammenhang der Walser-Bubis-Debatte angedeutet wurde, ist historisches Erinnern nie neutral, sondern immer interessengeleitet. Damit besteht die Gefahr der politischen Instrumentalisierung des Erinnerns. So gibt es im Blick auf das Erinnern an das Dritte Reich den bösen Verdacht: einer „Holocaustindustrie“, die illegitime, wirtschaftliche Interessen verfolgt zu Lasten des Deutschen Volkes. Doch wer mit dieser Unterstellung arbeitet, verunglimpft das moralisch völlig legitime Unterfangen, dass Opfer des Nationalsozialismus um die öffentliche Anerkennung eines Opferstatus und eine entsprechende finanzielle Entschädigung kämpfen. Er ist zudem auch oft Ausdruck des beliebten antijüdischen Stereotyps, Juden der Geldgier zu bezichtigen. Schließlich muss im
Blick bleiben, dass auch das Verschweigen oder Relativieren von Geschichte bei den Tätern oder deren Angehörigen sehr oft interessegeleitet ist. Die Feststellung allein, dass Interessen mit dem Erinnern verbunden sein können, desavouiert diese noch in keiner Weise. Was Not tut, ist die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Interessen. Das freilich ist manchmal ein mühevolles und schwieriges Unternehmen.

Eine weitere Gefahr beim Umgang mit der Vergangenheit besteht in der Banalisierung des Erinnerns, dem angeblich die modernen Medien ganz besonders Vorschub leisten. Ein solches „Historiotainment“ (Volkhard Knigge) führe zur Vereinfachung von geschichtlichen Abläufen und biete einfache, monokausale Erklärungen an, wo komplexe Analysen gefordert wären. So berechtigt manche Kritik an einer undifferenzierten Darstellung im Einzelfall sein mag, so wenig hilft eine pauschale Medienschelte weiter. Gut gemachte Dokumentationen über die Hitlerzeit, wie sie gerade auch in den öffentlich-rechtlichen Programmen immer wieder angeboten werden, sind auch als Chance zu begreifen, einem breiten Publikum Geschichte näher zu bringen.

Nicht nur rechtsgerichtete Kreise, sondern auch seriöse Stimmen warnen in letzter Zeit vor einer Inflation des Erinnerns. Angesichts des gegenwärtigen „Erinnerungsbooms“ stelle sich die Frage der „Dosierung“. Dieser vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog in die Diskussion eingebrachten Warnung geht es nicht darum, einen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte zu ziehen, sondern darum, keine Abwehrmechanismen in Gang zu setzen. Wer mit Schreckensbildern überflutet wird, der kann abstumpfen. Das mag stimmen, andererseits gibt es aber immer noch ein hohes Maß an Uniformiertheit, gerade auch bei Jugendlichen. Wichtig scheint mir auch hier, wer die Frage nach der „Dosierung“ stellt. Auch sie kann interessegeleitet sein. Kommt sie von Rechts, ist Vorsicht angebracht.

Worum es beim Erinnern nie gehen darf, ist die Beschämung der Täter: „Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blutvergießen“ (Talmud). Ganz problematisch sind die namentliche Nennung derer, die Schuld auf sich geladen haben. Meist ist diese auch aus gutem Grund rechtlich verboten. Diese selbst auferlegte Zurückhaltung entspringt der Erkenntnis, dass man echte Umkehr nicht erzwingen kann, sie kann nur von innen kommen und setzt Reue voraus. Wahr ist aber auch, dass man nicht aus falsch verstandenem Schutz der Täter das Gedenken an die Opfer unterlassen darf. Wenig Verständnis ist angebracht, wo Archive selbst für Historiker geschlossen bleiben, um das Ansehen bestimmter Personen nicht zu beschädigen.

Vom Sinn des Erinnerns

Erinnerung an die Todeslager in der Berliner Innenstadt

„Jischor“ - „gedenke“ lautet einer der wichtigsten Imperative der Hebräischen Bibel. Meist geht es um die Selbstversicherung der eigenen Identität durch den Blick zurück in die Vergangenheit. Dabei wird das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe von Menschen nicht nur aus den „Großtaten“ der eigenen Vorfahren, sondern auch aus deren Kontingenzerfahrungen gespeist. Dieser Rückblick verbindet die Opfer mit ihren Hinterbliebenen, stiftet eine „anamnetische Solidarität“ (Micha Brumlik) über die Generationsgrenzen hinweg, die dem Leiden „trotz allem“ Sinn abringt. So wird das Sabbatgebot in der Bibel nicht nur durch Gottes Ruhen am 7. Tag der
Schöpfung begründet (so Ex 20,8), sondern auch durch die Erinnerung an die Sklaverei des Volkes in Ägypten (Dtn 5,15).

Geschichtliche Traumata können bearbeitet werden, indem Riten und Gebräuche möglichst treu weitergegeben und kultisch exakt nachvollzogen werden. So war es auch einer der stabilisierenden Faktoren im frühen Christentums, dass sich die Anhänger Jesu regelmäßig in Form des Abendmahls des Leidens und Sterbens Jesu erinnerten. Indem sie dies „zu seinem Gedächtnis“ taten, fanden sie die sinnfällige Bestätigung ihres Glaubens, dass „die Sache Jesu“ weiter gehe. Zugleich aber entstand ein Kanon Heiliger Schriften, die an den Religionsstifter erinnerten. Durch diese Schriftwerdung gelang es, das schmerzliche Geschehen der Anfangszeit hinüber zu retten in das kulturelle Gedächtnis der Christenheit.

Beim Holocaust-Gedenken finden sich ebenfalls literarische wie rituelle Formen des Erinnerns: Was die Literatur angeht, so fallt auf, dass viele Autobiographien von Überlebenden der Katastrophe auffallend spät entstanden. Erst gegen Ende ihres Lebens - und oft auch erst nach intensivem Nachfragen der Angehörigen - gaben die Opfer den quälenden Erinnerungen Raum. Manchmal sind es sogar erst die Kinder und Enkel, die die Erlebnisse ihrer Vorfahren in mühevoller Kleinarbeit recherchieren und zu Papier bringen. Gerade sie leiden oft unter dem schamhaften Schweigen ihrer Familienangehörigen und sehnen sich nach einer Wahrheit, die doch alle Beteiligten überfordern muss. In vielen Fällen haben Therapeuten unter den nachfolgenden Generationen psychische Deformationen festgestellt, bis heute Spätfolgen von Auschwitz.

Erinnern ist aber nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter und ihre Nachfahren wichtig: Es gibt ihnen die Möglichkeit, sich mit der eigenen Schuldverstrickung kritisch auseinander zu setzen und sich von ihrem Tun zu distanzieren. Wo dies gelingt, kann die eigene Schuld erkannt und eingestanden werden - theologisch gesehen die Voraussetzung von Vergebung und Versöhnung. Viele Täterbiografien kommen angesichts der eingangs schon beschriebenen psychischen Abwehrmechanismen über hilflose Rechtfertigungsversuche nicht hinaus. Aber ihren Kindern gelingt mitunter ein freier, unverstellter Blick auf die Vergangenheit, der eine nähere Auseinandersetzung lohnt. Inwieweit bei der Aufarbeitung von Geschichte auch die Täterperspektive eine Rolle spielen darf bzw. soll, ist heute ebenso Gegenstand von Kontroversen wie die Frage, ob dieser tragische Stoff für Komödien oder gar Comics tauge.

Neben der literarischen Form des Erinnerns finden sich auch rituelle Spielarten der Vergegenwärtigung. Dabei beinhalten Rituale nicht nur die (sicher auch gegebene) Gefahr der Erstarrung in der äußeren Form, sondern eröffnen zugleich die Chance, durch feste, vorgegeben Strukturen den Menschen Sicherheit zu geben in diesem unsicheren Terrain. Riten sprechen uns außerdem ganzheitlich an und wenden sich nicht nur an den Verstand. Gerade weil der Faschismus mehr war als nur eine „Gedankenlosigkeit“, eine geistige Verirrung, muss auch die Umkehr den ganzen Menschen umfassen, das Somatische mit eingeschlossen.

In Israel rufen regelmäßig am 27. Nissan, um 10 Uhr Sirenen dazu auf, das öffentliche Leben für zwei Minuten zu unterbrechen und im Gedenken an die Opfer der Judenverfolgung inne zu halten. Kranzniederlegungen in der Gedenkstätte Jad va-Schem werden live im Fernsehen übertragen und prägen so das Bewusstsein der ganzer Generationen. Bei uns, im „Land der Täter“, wurde ein Gedenktag erst relativ spät eingeführt: Seit 1996 wird der 27. Januar, der Tag, an dem das KZ Auschwitz von den Deutschen befreit wurde, als Tag der Trauer und des Andenkens begangen. Auch die UNO ruft seit 2005 dazu auf, an diesem Tag an die Judenmorde zu erinnern. An vielen Orten in Deutschland finden am 9. November Gedenkveranstaltungen statt in Erinnerung an die Novemberpogrome der Nazis von 1938. Eine Initiative der Würtembergischen Kirche strebt an, diesen Tag sogar bundesweit als offiziellen Buß- und Gedenktag kirchlich einzuführen. Ob das Begehen solcher Gedenktage mehr sein kann als ein Zugeständnis an die „political correctness“, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, sie vom Beigeschmack bloßer Pflichterfüllung zu befreien.

Erinnern ist im christlich-jüdischen Kulturkreis Ausdruck von Trauer und schon von daher nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. An den Holocaust zu erinnern heißt also immer auch, den Opfern postum eine Stimme zu verleihen. Sie zu vergessen hieße umgekehrt, sie ein zweites mal zu töten. Dabei ist wichtig, dass Gedenken nie kollektiv, sondern immer individuell stattfindet. Die unvorstellbare Zahl der Ermordeten erweist sich beim genaueren Hinsehen als die Summe von unzählig vielen Einzelschicksalen. Um die Toten der anonymen Masse der Ermordeten und damit dem Vergessen zu entreißen, kann man die Gräber der Verstorbenen besuchen. Besonders schmerzhaft ist es, wenn der Verbleib der Ermordeten nicht mehr zu ermitteln und die Trauer der Angehörigen damit ohne festen lokalen Bezugspunkt ist. Oft gibt es aber nicht einmal mehr solche trauenden Angehörige. Das mindeste, was wir als nichtjüdische Mitbürger dann tun können, ist, der Namen der Opfer zu gedenken, sie aufzulisten und einmal im Jahr öffentlich zu verlesen. So ihre Identität bewahren zu helfen, ist ein kleiner Beitrag christlicher Pietät.

An vielen Orten werden heute Gedenkstätten und Mahnmale errichtet. Diese Stätten nach ausführlicher öffentlicher Diskussion zu Orten der Information und der Kontemplation auszugestalten, ist für jede Gesellschaft Ausdruck eines mündigen Umgangs mit der eigenen Geschichte. Solche Initiativen, gerade wenn sie nicht staatlich verordnet, sondern zivilgesellschaftlich getragen sind, zeigen unmissverständlich an, wo ein Gemeinwesen steht. Obwohl (oder gerade weil) die Debatten dabei oft sehr konfliktreich verlaufen, kann man mit einigem Recht behaupten, dass der Weg manchmal fast so wichtig sein kann wie das Ziel.

Das bekannteste deutsche Beispiel eines solchen Mahnmals ist sicher das 19.000 qm große Stelenfeld des amerikansichen Architekten Peter Eisenman, das im Mai 2005 im Herzen der Bundeshauptstadt eingeweiht wurde. Die an Grabsteine erinnernden grauen Steinquader von unterschiedlicher Höhe und Neigung wecken beim Beobachter Unsicherheit und Beklommenheit. In Israel war das Holocaustgedenken für den neu entstandenen Staat von Anfang an in höchsten Maße identitätsstiftend. Hier entstand bereits 1953 in Jerusalem ein Museum für die Märtyrer und Helden der Shoah namens „Jad wa-Schem“ („Hand und Name“). Die Raumanordung des Museums zeigt „einen Gang durch die Geschichte durch die Finsternis der Verfolgung ins Licht der eigenen Nation. Katastrophe und Erlösung scheinen untrennbar miteinander verknüpft.“ Dass in Israel das Erinnern an die Shoah gegenwärtig stark durch den israelisch-palästinensischen Konflikt überlagert und von ihm beeinflusst wird, kann hier nur angedeutet aber nicht mehr ausgeführt werden.

Spätestes an diesen Beispielen zeigt sich, wie im Umgang einer Gesellschaft mit der eigenen Geschichte immer auch Gegenwartsinteressen und Zukunftsperspektiven mit zur Debatte stehen. Weil der Blick auf die Vergangenheit zugleich den Blick für die Gegenwart schärft, wird die Erinnerung an die Toten zugleich zur Mahnung an die Überlebenden zum Kampf für Menschenrechte und Intoleranz heute. Deshalb ist Erinnern niemals nur rückwärtsgewandt, sondern bezogen auf die aktuellen politischen Problemlagen und Herausforderung einer jeden Gesellschaft – und diese sind in Deutschland naturgemäß andere als in Israel oder anderswo. Durch die Frage nach zukunftsgemäßen, d.h. nach auch morgen noch plausiblen Formen des Erinnerns wird das Erinnern zu einem bleibenden Gestaltungsauftrag, dem sich keine Generation entziehen kann. So erweist sich das bedrückende Gestern als Aufgabe und Chance für uns heute, damit das Leben der Menschen auch morgen gelingen kann.

Dieser Text wurde (ohne Fußnoten) in Druckform veröffentlicht in: „Welt aus den Fugen. Versuche des Erinnerns – nicht nur am 9. November“, hrsg. vom Evangelischen Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau in der Evang. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).
Neben Anregungen zur Gestaltung von Gottesdiensten, Andachten und Meditationen finden sich dort auch Texte zur "Erinnerungsarbeit", zu Schuld, Scham und Verantwortung in der Seelsorge u.a.
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Verwendete und weiterführende Literatur

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München, München 2006
Dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München, 1999 [3. Aufl. 2006]
Brumlik, Micha/Funke, Hajo/Rensmann, Lars, Umkämpftes Vergessen: Walser-Debatte, Holcaust-Mahnmal und neue deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000.
Brumlik, Micha: Gewissen, Gedenken und anamnetische Solidarität, Universitas 12/1998, S. 1143-1153
Bar-On, Daniel: Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland, in: Deutschland und Israel, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15/2005)
Dachs, Gisela: Wer sich nicht erinnert, hat keine Geschichte. Die Palästinenser, Israel und der Holocaust, in: Deutsche, Israelis und Palästinenser. Ein schwieriges Verhältnis, Heidelberg 1999
Danziger, Ines: Die zweite Generation nach dem Holocaust, in: Ein Ast bei Nacht kein Ast, Jörg Wiesse / Erhard Olbrich (hg.), Göttingen 1995
Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996
Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsoz. Judenvernichtung, München 1987
Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002
Krieg, Claudia: Dimensionen von Erinnerung. Eine kritische Betrachtung verschiedener Aspekte des Erinnerungsbegriffs im Kontext der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, Magisterstudiengang Soziologie, Universität Bremen (als pdf-Datei: http://archiv.schublade.org)
Schmitz, Walter: Erinnerte Shoah - Die Literatur der Überlebenden. The Shoah Remembered - Literature of the Survivors, Dresden 2003
Staudte-Lauber, Annalena: Stichwort Holocaust, München 1997
Young, James: Mahnmale des Holocaust: Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994