Kabbala: Die jüdische Mystik

 

von Stefan Meißner


Die Sefirot: göttliche Emanationen

Die „Kabbala“, wörtlich übersetzt „Tradition“, ist eine mystische Richtung im Judentums, die im 12./13. Jhd. in Südfrankreich und Spanien entstanden ist. Wie in anderen Religionen, so geht es auch in der jüdischen Mystik um das „Verschmelzen“, das Eins-Werden mit Gott. Ansätze zu einem solchen Denken, das oft den Charaktereiner esoterischen Geheimlehre hat, finden sich bereits in der rabbinischen Literatur. Inhalt der früheren jüdischen Mystik sind etwa die Schöpfungswerke Gottes (Ma’ase Bereschit), die man als unabgeschlossen ansieht, weshalb der Mensch helfend und korrigierend in den Schöpfungs¬prozess eingreifen kann. Ein anders beliebtes Thema ist der in Ez 1,5 bereits erwähnte Thronwagen Gottes (Ma’ase Merkava). Überhaupt versucht man sich die göttliche Thronsphäre mit ihren sieben Himmels¬hallen (Hekhalot) auszumalen, samt den darin wohnenden Engelwesen.

Im Mittelalter gelangt dieses mystische Denken dann zur vollen Blüte und bringt mit dem „Sohar“ (um 1275) sein populärstes Werk hervor. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien fand dieses Buch, das mit dem Namen des Moses di Leon in Verbindung gebracht wird, weite Verbreitung im ganzen Mittelmeerraum. Im 16. Jhd. entstand unter der Führung Isaak Lurias ein neues Zentrum der Kabbala im ober-galiläischen Safed (heute: „Zefat“).

Die mittelalterlichen Mystiker unterscheiden zwischen der jeder Erkenntnis unzugänglichen Seite Gottes, die man als „En-Sof“ („das Unendliche“) bezeichnete, und seiner der Schöpfung zuge¬wandten, aktiven Seite, die in zehn „Sefirot“ („Sphären“) zerfällt. Durch Zahlenmystik („Gematria“) und Buchstabenspekulationen („Atbasch“) versucht man den geistlichen Sinn der Tora zu erschließen. Im Volksglauben hat sich v.a. auch die „praktische Kabbala“ fest eingenistet, in der Askese, Magie und Zauber (oft mit Hilfe von Gottes- und Engelsnamen) einen festen Platz hat.

Große Breitenwirkung entfaltete die jüdische Mystik noch einmal im 18. Jhd. in Form des „Chassidismus“. Diese besonders in Osteuropa populäre Strömung betont, im Unterschied zum klassischen Judentum, das sehr auf das Lernen und den Intellekt Wert legt, das emotionale und enthusiastische Moment in der Frömmigkeit, was sich in einer Vorliebe zu Tanz, Musik und Gesang äußert. Bekannt sind auch die von den „Chassidim“ (d.h. „Fromme“) mündlich überlieferten Erzählungen von ihren Meistern („Zaddikim“ = Gerechte), zu denen sie ein inniges Lehrer-Schüler-Verhältnis hatten.

 

Bild: Abbildung aus dem Buch Portae Lucis (‚Die Pforten des Lichts‘) (lateinische Übersetzung des Werkes Scha’arej ora von Josef ben Abraham Gikatilla (1248–1305) durch Paul Riccius (Augsburg, 1516), Wikipedia Common (gemeinfrei)

Weiterführender Link:
Wolfgang Pauly: Isaak Luria – Die Aktualität der jüdischen Mystik

 

Unser Buchtipp

Gerschom Scholem:
Zur Kabbala und ihrer Symbolik

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft)