von Holger Müller
Damit
war jedoch das Morden, das sich ja bis dahin noch in Grenzen gehalten hatte,
noch lange nicht beendet, die wirklichen Progrome sollten erst noch kommen.
Am 18. Mai 1096 fiel das Heer des Grafen von Leiningen über die jüdische
Gemeinde von Worms her. Aber schon bevor der Graf mit seinem Heer in der Stadt
einfiel, spielten sich dort abscheuliche Szenen ab. Wormser Bürger zogen
mit der schon stark verwesten Leiche einer jungen Frau durch die Stadt und behaupteten,
die Juden hätten die Frau erst ertränkt und die Tote anschließend
in Wasser abgekocht,
um die Brunnen der Christen mit diesem Wasser zu vergiften. Das Stadtvolk von
Worms befand sich schon in wildem Zorn gegen die Juden, als die Kreuzritter
nahten. Wie in Speyer suchten die Juden nun zu einem kleinen Teil bei befreundeten
Christen Zuflucht, während sich die meisten dem Schutz von Bischof Albrand
anvertrauten. Dieser ließ sich teuer dafür bezahlen, dass er sie
in seinen Palast aufnahm. Dort verschanzten sie sich, während die Krieger
im Namen Jesu im Judenviertel tobten und jeden Juden grausam umbrachten, den
sie dort noch vorfanden. Dann stürmten sie den Palast des Bischofs. Die
Juden verteidigten sich tapfer, konnten jedoch dieser überlegenen Streitmacht
nicht lange standhalten. Jeder tote Jude, ob Mann oder Frau, jung oder alt,
wurde ausgeplündert, bis auf den nackten Leib ausgezogen und auf die Straße
geworfen. Wer die Schlacht überlebte, hatte die Wahl, auf der Stelle hingerichtet
zu werden oder sich taufen zu lassen. Die meisten zogen es vor unter den Schwertern,
Lanzen und Knüppeln der Kreuzfahrer und Wormser Bürger zu sterben.
Einige schworen ihrem Glauben ab und ließen sich taufen, aber nur zum
Schein. Sie wollten nur ein wenig Zeit gewinnen, um die nackten, misshandelten
Leichen ihrer Leidensgenossen anständig begraben zu können. Danach
begingen sie Selbstmord. Insgesamt fanden bei diesem Massaker an die achthundert
Juden den Tod.
Die Nachricht von dem Massaker in Worms löste in der jüdischen Gemeinde von Mainz, genannt Magenza, die immerhin die reichste jüdische Gemeinde im ganzen Heiligen Römischen Reich war und daher ein besonders attraktives Angriffsziel bot, riesiges Entsetzen und eine fürchterliche Angst aus. Schon bevor Emicho, der vom Volk den Beinamen "der Schlächter" erhalten hatte, und sein Heer in der Mainzer Mark eintrafen, brachten viele Juden ihre Wertsachen zu befreundeten Christen. Die Mainzer Juden standen unter dem Schutz des Mainzer Erzbischofs Ruthard und dem Burggrafen Gerhard, der die städtischen Truppen befehligte, die ihnen aber nicht aus freien Stücken Schutz gewährt hatten, sondern nur weil die Juden sie mit vierhundert Silbermark bestochen hatten. Auch die reichsten Mainzer Bürger hatten sie mit Geldgeschenken bedacht. Jedoch hatten sowohl der Bischof, als auch der Burggraf den Juden geschworen, dass mit ihnen sterben oder sie am Leben erhalten würden. Der Bischof hatte vor, die Kreuzfahrer nicht in die gut befestigte Stadt zu lassen. Unglücklicherweise gab es auch innerhalb der Stadtmauern genug Leute, die mit Emicho gemeinsame Sache machen wollten. Am 25. Mai nach christlicher Zeitrechnung und nach jüdischer am Neumondstag des Siwan, tauchte das Kreuzfahrerheer des Grafen Emicho von Leiningen vor den Toren von Mainz auf. Berittene Boten des Erzbischofs und des Burggrafen hatten schon am Morgen das Nahen des gewaltigen Lindwurms aus Rittern, Klerikern, Trossknechten, Bauern, davongelaufenem Stadtvolk, Dirnen und vielerlei Gesindel gemeldet, worauf unverzüglich der Befehl ergangen war, alle Tore zu verschließen und verstärkt mit Soldaten zu besetzen. Ein Großteil der Mainzer Juden beeilte sich nun, hinter den Mauer des erzbischöflichen Palastes Schutz zu suchen oder sich in die befestigte Anlage des Burggrafen zu flüchten. Ein kleinerer Teil der Juden harrte noch in seinem Viertel aus. Sie hofften, dass Graf Emicho die jüdische Gemeinde von Mainz verschonen würde, wenn er erst die Truhe voller Silberstücke und die sieben Pfund Gold erhalten hatte, womit sie hofften ihn bestechen zu können. Eine Abordnung des Bischofs sollte dem Grafen diesen Schatz im Namen der Juden übergeben.
"Verräter aus dem Stadtvolk haben das Tor geöffnet! Anhänger
des Grafen sind den Wachen am Gautor in den Rücken gefallen und haben Emichos
Heer freien Zugang verschafft! Die Kreuzfahrer dringen in die Stadt ein!"
So oder so ähnlich dürfte die Schreckensnachricht gelautet haben,
mit der ein Bote des Bischofs um die Mittagsstunde des 27. Mai unter den Juden
von Mainz blankes Entsetzen hervorrief. Nun begaben sich auch die letzten Juden
in die Obhut des Bischofs oder des Burggrafen.
Der Angriff der Kreuzfahrer ließ lange auf sich warten. Sie legten bei
der brütenden Hitze keine sonderliche Eile an den Tag, nachdem sie den
Dom mit der Bischofsresidenz umzingelt hatten und wussten, dass die Juden ihnen
nicht entgehen konnten. Sie trieben mehrere schwere Balken auf, die sie mit
Seilen zusammenbanden, und stürmten schließlich am Nachmittag mit
diesem Rammbock gegen das schwere Portal an. Gleichzeitig begann eine andere
Gruppe von Kreuzfahrern an der Mauer des Gebäudetraktes, der sich auf der
Ostseite der Anlage erstreckte, ein Gerüst zu errichten, um darüber
an dieser Flanke des Gevierts in das Gebäude einzudringen. Die jüdischen
Frauen warfen in ihrer Verzweiflung ihr letztes Geld und die wenigen noch geretteten
Schmuckstücke aus den Fenstern unter die Männer, die auch sofort von
der Arbeit abließen und sich unter großem Gejohle darum rauften.
Aber damit vermochten sich die Eingeschlossenen nur einen kurzen Aufschub zu
erkaufen. Auch die Versuche, die Angreifer am Tor durch heißes Öl
und Pech, das man von oben aus dem Portalhaus über sie ausgoss, auf Abstand
zu halten, brachten wegen des geringen Vorrates nur eine kurze Verzögerung.
Und gegen das siedend heiße Wasser, mit dem man sich danach behelfen musste,
wussten sich die Kreuzfahrer durch ein Dach aus Schilden erfolgreich zu schützen.
Zudem konnte man gar nicht schnell genug so viel Wasser zum Sieden und ins Torhaus
bringen, wie es dort gebraucht wurde. Schließlich sprengten die Soldaten
das Tor. Triumphierendes Geschrei begleitete das Bersten der eisenbeschlagenen
Balken. Der Zugang zum erzbischöflichen Palast war aufgebrochen. Jetzt
war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Flut der Angreifer ungehindert
in den Hof stürmen und über die Juden herfallen würde.
Mit dem Triumphgeschrei erhob sich auch wieder der Ruf "Tod oder Taufe!"
aus der Menge, der jedoch bald durch die Drohung "Tod den Judenfreunden!...Tod
dem Bischof!...Tod allen Verrätern!" abgelöst wurde. Denn die
Soldaten des Erzbischofs hielten eine ganze Weile tapfer dem Ansturm der Kreuzfahrer
stand. Die ersten Soldaten fielen zu diesem Zeitpunkt.
Wegen des schmalen Durchgangs konnten die Kreuzfahrer nicht die geballte Macht
ihrer Truppe zum Einsatz bringen. Das erregte immer mehr den Zorn der Angreifer,
sodass die Drohungen gegen den Bischof und seine Männer immer lauter und
wütender wurden. Doch je aussichtsloser es wurde, den Sitz des Bischofs
gegen Emichos gewaltige Streitmacht auf Dauer verteidigen zu können, desto
tiefer sank die Kampfmoral der erzbischöflichen Truppe. Immer mehr Soldaten
zogen sich aus der vordersten Reihe der Verteidiger zurück und sammelten
sich im rückwärtigen, domseitigen Trakt des Palastes, um sich auf
den Schutz des Bischofs zu beschränken. Bald verteidigten nur noch erbittert
kämpfende Juden den Zugang zum Hof. Die entscheidende Wende im Schlachtgetümmel
kam, als jemand aus dem hinteren Trakt des Palastes etwa folgendes schrie: "Der
Bischof hat mit seinen Soldaten die Flucht ergriffen. Sie haben die Residenz
durch einen Geheimgang verlassen!"
Unter den Frauen und Kindern im Hof, im Säulengang und in den oberen Gemächern
setzte lautes Wehklagen ein, während die Kreuzfahrer im Bewusstsein ihres
Sieges, der jetzt nicht mehr fern sein konnte, jubelten und noch entschlossener
vorwärts drangen. Die vom wochenlangen Fasten geschwächten Juden wankten
jedoch nicht. Noch bei Sonnenuntergang verwehrten die Juden den Kreuzrittern
den Zugang zum Hof. Doch dann erklommen einige von ihnen das Dach, darunter
auch einige Bogenschützen, die ihre Pfeile nun auf die Rücken der
jüdischen Verteidiger am Tor abschossen. Andere rissen das Dach auf, sprangen
in die darunterliegenden Räume und fielen über die Männer, Frauen
und Kinder her, die sich dort aufhielten. Sie rissen den Toten die Kleider vom
Leid und warfen ihre nackten, verstümmelten Leiber aus dem Obergeschoss.
Das Ende kam schnell und war grauenhaft. Vor die Wahl gestellt, ihrem Glauben abzuschwören und sich auf der Stelle taufen zu lassen oder unter den Streitäxten, Schwertern und Lanzen der Kreuzfahrer einen grausamen Tod zu finden, begingen die Juden Selbstmord. Mit dem Schma Israel auf den Lippen, schnitt der Vater seinen Söhnen und die Mutter ihren Töchtern mit dem rituellen jüdischen Schlachtmesser, das besonders scharf und ohne jede Scharte zu sein hatte, damit das Schlachtvieh schnell und schmerzlos starb, die Kehle durch, um danach Hand an sich selbst zu legen. Die Kinder nahmen den Tod durch die Hände ihrer Eltern und Großeltern still und ohne Widerstand an. Bei diesem Angriff starben zwischen 1.000 und 1.200 Juden.
Interessant ist an dieser Stelle, dass einige Juden dieses Massaker überlebten. Und das geschah in etwa so:
"Es ist noch nicht alles verloren!", rief plötzlich
eine kindliche Stimme. "Ich kann euch helfen den Kreuzfahrern zu entkommen!
Ihr müsst mir nur vertrauen!"
Die Köpfe fuhren herum und richteten sich auf einen Jungen, der am Ende
des Gangs stand und höchstens zehn Jahre alt sein konnte.
Er trug das Livree eines erzbischöflichen Pagen.
"Niemand wird Emichos Schlächtern entkommen!" widersprach ein
Mann. "Wir sind verloren. Nichts kann uns jetzt noch retten. Wenn Emicho
mit seinem Heer weiterzieht, wird es die jüdische Gemeinde von Magenza
nicht mehr geben. Wir werden alle tot sein!"
"Doch, ihr könnt ihnen entkommen!", beharrte der Page. "Es
gibt ein Versteck, wo man euch bestimmt nicht findet. Ich kann euch dorthin
führen!"
"Dann tu das!", forderte Rabbi Kalonymos ihn auf und rief in die Runde
der Juden, die an die sechzig Personen jeden Alters zählte: "Wenn
es noch Hoffnung auf Rettung gibt, darf keiner Hand an sich legen!"
"Kommt! Ihr dürft nicht länger zögern! Die ersten Kreuzfahrer
werden gleich die Treppe hochkommen! Wenn sie uns sehen, ist alles verloren!",
drängte der Page und lief los.
Alle folgten ihm, auch der Mann, der eine Rettung aus dieser Lage für unmöglich
hielt.
Der Page führte sie durch prunkvolle Gemächer und Gänge, dann
kamen sie zu einer schmalen steinernen Wendeltreppe, die sie abwärts führte
und unten in einen dunklen Gang mündete. Das einzige Licht kam jetzt von
der Fackel, die der Page zuvor oben an der Treppe entzündet hatte.
"Hier hinein!", rief der Page.
Wie die Lemminge stürzten sie durch eine schmale, aber massive Tür
aus Eichenbohlen, die der Junge am Ende des Ganges geöffnet hatte, in den
dahinter liegenden kühlen, dunklen Raum.
"Wo sind wir?", wollte Rabbi Kalonymos wissen, als er die Tür
erreichte.
"Im Secretarium!", stieß der Page hervor. "Macht schnell.
Ich schließe hinter euch ab, dann seid ihr sicher! Nur wenige kennen diese
Kammer. Und verhaltet euch bloß still! Ich komme zurück sobald die
Kreuzfahrer abgezogen sind. Dann zeige ich euch, wie ihr euch durch einen anderen
versteckten Ausgang aus der Residenz schleichen könnt."
(aus: Rainer Maria Schröder, "Das Vermächtnis des alten Pilgers",
Arena Verlag 2001)
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