Die Pharisäer - ein Forschungsbericht

Dr. Stefan Meißner

1. Die Quellen

Keine der uns überlieferten frühjüdischen Quellen lässt sich sicher auf die Pharisäer zurückführen (umstritten PsSal). Selbstdarstellungen von Pharisäern gibt es nicht, nur solche von ehemaligen Pharisäern: Paulus u. Josephus. Doch auch deren Zeugnis ist umstritten. Die drei Hauptquellen über den Pharisäismus sind: a.) Josephus, b.) das NT (bes. die Evangelien u. Apg) u. c.) das rabbinische Schrifttum. In jeden Fall muß das erkenntnisleitende Interesse der jeweiligen Quelle berücksichtigt werden.

  1. Josephus erwähnt die Pharisäer in seinen beiden Werken Bellum (um 80) und Antiquitates (93/94). Probleme bereiten die kaum zu leugnenden Unterschiede zwischen beiden Darstellungen. Es ist weithin anerkannt, dass letzteres Werk durch eine freundlichere Sicht der Pharisäer bestimmt ist.
  2. Paulus bezeichnet sich selbst als "nach dem Gesetz ein Pharisäer" (Phil 3,5; vgl. auch Apg 26,5). Doch Hengel und Saldarini verstehen die Bemerkung lediglich als Hinweis auf die den Pharisäern nahe stehende Gesetzesfrömmigkeit des vorchristlichen Paulus. Eine Zugehörigkeit zu den Pharisäern als Gruppe lasse sich daraus noch nicht ableiten. In den Evangelien werden die Pharisäer meist als scheinheilige Gegner Jesu karikiert, denen es nur auf die äußere Befolgung der Gesetzesvorschriften ankommt. Dass dieses Bild einer kritischen Prüfung kaum standhält, ist heute allgemein akzeptiert. Doch gibt es auch unpolemische Bemerkungen, die besondere Beachtung verdienen.
  3. Auch das rabbinische Schrifttum ist eine problematische Quelle. Erstens beziehen sich viele (meist kritische) Äußerungen über gewisse peruschim nicht auf die Partei der Pharisäer, sondern asketische Separatisten späterer Zeit, zweitens ist das rabbinische Schrifttum äußerst schwer zu datieren. E. Rivkin schlägt vor, nur solche Stellen für die Geschichte der Pharisäer vor 70 auszuwerten, an denen die peruschim mit den Saduzäern kontrastiert werden. Das setzt allerdings ungeprüft voraus, daß der Begriff „Sadduzäer" univok verwendet wird (vgl. Lightstone). Mindestens ebenso problematisch ist es aber, alle in der Traditionskette mAv I genannten Rabbinen aus der Zeit vor 70 zu Pharisäern zu erklären (so J. Neusner; zur Kritik: Cohen, 156f.).


2. Name und historische Wurzeln

Man nimmt weithin an, daß die Pharisäer auf die Hasidäerbewegung (Hasidim = die Frommen) zurückgehen, die in frühmakkabäischer Zeit den jüdischen Glauben gegen hellenistische Überfremdung verteidigte. Nach dem Sieg über die Fremherrschaft der Seleukiden scheint es zwischen Pharisäern und den nunmehr regierenden Hasmonäern zum Bruch gekommen zu sein. Ob ihr Name (peruschim = Separatisten) sich von diesem Bruch ableitet oder der rituellen Abgrenzung von ihrer Umwelt, ist umstritten. Baumgarten hat jüngst vermutet, der Name sei eine Selbstbezeichnung und habe mit der differenzierten Gesetzeskasuistik dieser Partei zu tun ("die, die unterscheiden").


3. Der politische Einfluß der Pharisäer im 1. Jhd. n. Chr.

Der frühere Konsens der Forschung (G.F. Moore, L. Finkelstein G. Alon) ging davon aus, daß die Pharisäer die 'normative' bzw. 'orthodoxe' Gestalt des Judentums im 1. Jhd. (ja der ganzen Zweiten-Tempel-Epoche) verkörpern. Diese Position ist so aber heute kaum mehr haltbar.
Sie wurde erstmals grundsätzlich in Frage gestellt von M. Smith, der die Pharisäer nur als eine unter vielen Sekten des damaligen Judentums ansieht. Smith betrachtet die Darstellung des Josephus in den "Jüdischen Altertümern" (Antiquitates), wonach die Pharisäer im Volk hohes Ansehen geniesen, als reine Propaganda, die darauf abzielt, den Römern die Pharisäer als polit. Führer ihres Volkes zu empfehlen. Für historisch zuverlässiger hält er den "Jüdischen Krieg" (Bellum), wo sich kein Hinweis auf einen nennenswerten politischen Einfluß der Pharisäer findet. Bestätigt und ergänzt wurde diese These durch J. Neusner u. I.L. Levine, die davon ausgehen, dass sich die Pharisäer unter Herodes von der politischen Szene zurückgezogen und rein religiös gewirkt haben (vgl. den Buchtitel Neusners: "From Politics to Piety").
In der Tat scheint der Schlüssel zum Verständnis der Pharisäer bei Josephus im Verhältnis der beiden angesprochenen Schriften zueinander zu liegen. Die Unterschiede lassen sich auf verschiedene Weise erklären:

  1. H.D. Mantel begründet die (von L.H. Feldman in Abrede gestellten) Unterschiede durch das jeweils angesprochene Publikum: Bellum sei für jüdische Leser geschrieben und beschränke sich deshalb auf den religiösen Aspekt, während Antiquitates für die Römer geschrieben sei, die am politischen Aspekt mehr interessiert gewesen seien.
  2. D.R. Schwartz löst das Problem literarkritisch: Er weist die kritischen Passagen einer Quelle zu: Nikolaus v. Damaskus, einem Hofschreiber des Herodes. Umgekehrt als Neusner geht Schwartz davon aus, daß Antiquitates historisch zuverlässiger als Bellum ist. In letzterer Schrift habe Josephus versucht, den politischen Einfluß der Pharisäer herunterzuspielen, um sie so von dem Aufstand gegen die Römer abzugrenzen. Ihre Bedeutung sei allein auf dem Gebiet der Religion gelegen. Demgegenüber merkt M. Goodblatt kritisch an: Um die Unschuld der Pharisäer am Aufstand zu betonen, hätte Josephus den Pharisäern nicht gleich jede politische Betätigung absprechen müssen. Außerdem sei die von Schwartz vorausgesetzte Trennung von Religion und Politik anachronistisch.

4. Das Verhältnis von Pharisäern und Rabbinen

Früher ging man überwiegend davon aus, daß die Rabbinen die pharisäischen Traditionen einfach fortsetzten (S. Belkin, S. Zeitlin, L. Finkelstein, früher J. Neusner). Doch ist dieser Identifizierung gegenüber Zurückhaltung angebracht, wie in jüngerer Zeit beispielsweise S. Cohen betont hat.
Von den in den Traditionsketten mAv I aufgeführten Rabbinen sind lediglich zwei (Gamaliel I. und Simon ben Gamaliel) mit Sicherheit Pharisäer. Daß einige der Geschichten, die Josephus über die Pharisäer erzählt, auch im klassischen jüdischen Schrifttum als Teil rabbinischer Überlieferungwieder auftauchen, kann Ergebnis einer nachträglichen Rabbinisierung der pharisäischen Geschichte sein. Den Übereinstimmungen in der Lehre von Rabbinen u. Pharisäern stehen eine nicht geringe Zahl von Unterschieden gegenüber. Die Tannaiten bezeichneten sich selbst nie als Pharisäer, noch wird je ein einzelner von ihnen so genannt. Erst unter den Amoräern Babyloniens ist die Tendenz zu erkennen, sich von den Pharisäern herzuleiten. Doch auch hier ist die Anknüpfung nicht nur in positivem Sinn gegeben. Cohen sieht den Grund für diese Zurückhaltung der Rabbinen, sich als Pharisäer auszuweisen, darin, daß man sich an diese als eine der vielen einander ausschließenden und befehdenden Sekten der Zweiten-Tempel-Periode erinnerte. Der nach dem Zusammenbruch 70 n.Chr. notwendige Neuanfang (Javne!) konnte aber nur auf Integration (auch unterschiedlicher Positionen), nicht aber auf Exklusivismus gegründet werden.

Literaturliste:
A.I. Baumgarten: The Name of the Pharisees, JBL 102/3/ 1983, 413-417
S.D. COHEN: From the Maccabees to the Mishnah, Philadelphia 1989
DERS.: The Significance of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sectarianism, HUCA 55/ 1984, 27-53
L.H. FELDMAN:
Scholarship on Philo and Josephus (1937-1962), New York, ohne Jahr
L. FINKELSTEIN: The Pharisees I-II, Philadelphia 1938
M. Goodblatt: The Place of the Pharisees in First Century Judaism: The State of the Debate, JSJ 20/ 1989, 12-30
J. Lightstone: Saducees versus Pharisees.
The Tannaitic Sources, in: Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults, FS M. Smith, J. Neusner ed., Leiden 1975, 206-17
H.D. MANTEL: The Sadducees and the Pharisees, in: The World History of the Jewish People, First Series, Vol. VIII: Society and Religion in the Second Temple Period, M. Avi-Yonah/ Z. Baras eds., Jerusalem 1977
G.F. MOORE: Judaism in the First Centuries of the Christian Era I-III, Cambridge 1927-1930
J. Neusner: The Rabbinic Tradition about the Pharisees before 70 A.D., I-III, Leiden 1971
DERS.: From Politics to Piety, Englewood Cliffs 1973
E. Rivkin: Defining the Pharisees: The Tannaitic Sources, HUCA 40/41/ 1969/70, 205-49
A.J. SALDARINI: Pharisees, Scribes and Saducees in Paletinean Society. A Sociological Approach, Wilmington 1989
D.R. SCHWARTZ: Josephus and Nicolaus on the Pharisees, JSJ 14&/ 1983
M. SMITH: Palestinian Judaism in the First Century, in: Israel: Its Role in Civilisation, M. Davis ed., New York 1956

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