Die Nacht, in der die Mutterstadter Synagoge brannte

Der 10.11.1938 aus Sicht des Ernest Loeb

Die brennende Mutterstadter Synagoge am 10.11.1938

 

Ernst (Ernest) Loeb (1908-1992) war einer der wenigen Mutterstadter Juden, die den Holocaust überlebte. Bis zu seinem Tode blieb er seiner Heimatgemeinde auf das Engste verbunden. Anlässlich des Gedenktages zum 50. Jahrestag der Novemberprogrome von 1938 verfasste er einen Brief, in dem er sich an die Ereignisse an diesem Tag erinnert:

Ich bin 80 Jahre alt, geboren am 21. Mai 1908 in Mutterstadt. Ich bin der letzte Lebende der in Mutterstadt geborenen jüdischen Männer, die am 9. November 1938 Erwachsene waren. Es freute mich sehr, die Einladung zu erhalten an dem Gedenktag des 9. November 1938 teilzunehmen. Infolge meines gegenwärtigen Gesundheitszustandes ist es mir zu meinem großen Bedauern nicht möglich, bei Ihnen zu sein. Deshalb will ich Ihnen meine Gedanken hiermit schriftlich übermitteln.

Bis 1933, als die Nazi-Regierung zur Macht kam, lebten wir Juden in Mutterstadt als angesehene, gute Bürger. Zu
allen Zeiten waren wir Teil der Gesamtbevölkerung, nahmen Teil am gesellschaftlichen, kulturellen, sportlichen und wirtschaftlichen Leben. Ein Unterschied bestand nur darin, dass die beiden christlichen Konfessionen in ihre Kirchen und die Juden in ihre Synagoge gingen.

Plötzlich trat 1933 eine Änderung ein. Mit wenigen Ausnahmen hatte man keine guten Nachbarn und Freunde mehr, weil man Jude war. Ich bin überzeugt, dass es viele gab, deren Verhalten nicht auf feindliche Gefühle zurückzuführen war; sie beugten sich dem immer stärker werdenden Terror der damaligen Regierung in Deutschland.

Der Beginn der Verfolgungen war im März und April 1933. An dem so genannten Boykott-Tag, 1. April 1933, standen S.A. Männer vor den jüdischen Häusern und Geschäften. Von 1933 an mussten wir unsagbares Leid und Unrecht erfahren. Es würde zu weit gehen, hier an dieser Stelle Einzelheiten aufzuzählen. Die Verfolgungen wurden immer schwerer und führten zu dem angestifteten Niederbrennen der Synagoge, der Inhaftierung der Männer, allen verbrecherischen Taten des 9. November 1938 und der Deportation aller noch in Mutterstadt lebenden Juden im Oktober 1940. Viele der Deportierten wurden in Vernichtungslagern grausam ermordet.

Hier will ich nur der Ereignisse des Tages, dessen 50. Jahrestag wir in diesen Tagen begehen, gedenken. Herr Pfarrer Zumstein hat in seinem Vortrag am 9. November 1987 die Lage trefflich zum Ausdruck gebracht. Ich will meine persönlichen Erfahrungen anfügen. Am frühen Morgen des 10. November 1938 – der Tag ist unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt – hörte ich meinen Onkel Ferdinand Loeb, der im gleichen Haus wie meine Eltern und ich wohnte, im Hof rufen: „Die Synagoge brennt“. Ich wusste sofort, dass es kein zufälliger Brand war, sondern Brandstiftung. Am Abend vorher war an der Pforte (Port) an dem Eckhaus zum Eingang zur Speyerer Straße ein Extrablatt angeschlagen, dass in Kurhessen Synagogen von der Volkswut (wie sie es nannten) angezündet wurden. Einige Minuten später kam ein Freund meines Vater, Isidor Eppler, mit der Brand-Botschaft. Der Letztere war seit der Auswanderung seines Sohnes Jakob und Familie fast täglich in unserem Haus. Wir alle hatten die Sorgen gemeinsam und drückten unsere Hoffnungen und Befürchtungen gegenseitig aus. Meine Kusine Liese Loeb, Ferdinands Tochter, war am Morgen, wie üblich nach Ludwigshafen an ihren Arbeitsplatz gefahren. Nach kurzer Zeit kam sie per Taxi zurück, nachdem sie in Ludwigshafen sah, was vorging. Liese sagte mir: „Gehe aus dem Haus, verberge Dich, sie werden kommen und Dich holen“. Kaum war mir Zeit, ihr zu erwidern:
„Lass sie kommen, ich habe ein gutes, reines Gewissen,“ da kam schon ein Gendarmerie Wachtmeister und sagte „Ernest Loeb geboren 21.05.08“. Sie müssen mit mir kommen. Meine damals 69jährige Mutter fiel in Ohnmacht. Ich warf schnell einige Unterwäsche in meine Aktenmappe. Etwas Geld hatte ich in meiner Tasche. Dann ging ich hocherhobenen Hauptes und stolz (die Leute, die schuld waren an meiner Verhaftung und mir auf dem Weg begegneten, sollten sich schämen, waren meine Gedanken).

Ich wurde auf das Rathaus gebracht. Dort fand ich im Polizei-Zimmer bereits einige meiner Glaubensgenossen, andere kamen nach mir. Wir waren bewacht von dem Polizei-Kommissar Wilhelm Becker, der uns äußerst höflich behandelte und dem man anmerkte, dass er gegen seinen eigenen Willen seine Pflicht als Beamter tun musste. Vor dem Rathaus sammelte sich eine Menge an. Wir waren bzw. sollten mit dem nächsten Lokalzug nach Ludwigshafen gebracht werden.

Mein Vetter Jakob Loeb, geboren 1893, Frontkämpfer im ersten Weltkrieg, war der letzte Vorstand der jüdischen Gemeinde. Er war auch bei uns. Er und ich fragten Herrn Becker, ob wir anstatt per Bahn auf unsere eigenen Kosten mit dem Fritz Hörtel´schen Autobus transportiert werden könnten. Herr Becker sagte, er kann nicht darüber entscheiden, will aber mit den Bürgermeister (damals Backe?) fragen. Mit Zustimmung des Bürgermeisters bestellte Herr Becker Fritz Hörtel und wir wurden unter Aufsicht des Polizei-Beamten Alwin Reichert mit dem Bus nach Ludwigshafen gebracht. Dort war aber das Gefängnis bereits überfüllt. Die Reise ging nach Frankenthal weiter. Wir wollten unser Geld für spätere Notfälle aufheben und baten deshalb Fritz Hörtel, mit dem wir immer angenehme Geschäftsverdingungen hatten, sich das Geld von Karola Dellheim (Jakob´s Schwester) geben zu lassen. Er war damit einverstanden, doch hatte er niemals Karola um Geld gefragt, was ich ihm als Ehre anrechne.

Der Gefängnis-Direktor in Frankenthal behandelte uns auch mit dem Wissen, dass er kein Verbrecher, sondern angesehene, gute Bürger aufnehmen musste. Manche von uns waren in Einzelzellen, manche in Gemeinschaftszellen. Während des Tages waren unsere Zelltüren offen, und wir konnten uns gegenseitig besuchen. Ich war in einer Einzelzelle, in der ich in der Nacht vom 10. zum 11. November zuversichtlich über meine Lage nachdachte, was schwer aber nicht unmöglich war. Am Morgen des elften konnten Verwandte, Frauen, die mit Fahrrädern nach Frankenthal kamen, einige Lebensmittel zu uns bringen, durften uns aber nicht besuchen.

Am Abend des 11. November wurden wir nach Ludwigshafen transportiert und von dort aus nach dem KZ Dachau. Das ist eine besondere Geschichte, die ich hier nicht zur Sprache bringen will. Nach ungefähr 3 bis 4 Wochen wurden die Frontkämpfer aus dem KZ entlassen. Ich wurde am 21. Dezember 1938 entlassen, weil mein in Paris lebender Bruder Jakob Loeb, geb. 12. Januar 1900 in Mutterstadt, Papiere für mich beschaffen konnte, die der Gestapo genügten, mich frei zu lassen.

Am Nachmittag des 10. November wurden die nicht in Haft genommenen Männer über 60, Frauen und Kinder unter 16, von der Polizei aus den Häusern geholt. Sie wurden auf das Rathaus geführt und dort für 2 bis 3 Stunden festgehalten. Während die Leute auf dem Rathaus festgehalten wurden, geschah das Unfassbare: Die jüdischen Wohnungen wurden geplündert, Möbelstücke zerschlagen sowie Bilder, Spiegel, Lampen und elektrische Birnen. In manchen Häusern, nicht bei uns, wurden auch Betten aufgeschnitten, so dass die Federn herum flogen. (Es ist mir bewusst, dass durch Kriegshandlungen auch solche Schäden verursacht werden können. Es ist aber ein riesengroßer Unterschied, ob es sich um Kriegsschaden handelt oder ob die Zerstörung auf behördliche Anordnung gegen unbescholtene Bürger des eigenen Landes vorgenommen wird.)

Nicht – absolut nicht – habe ich das in dem damaligen Deutschland meinen Glaubensgenossen, meiner Familie und mir angetane Unrecht vergessen. Aber ich persönlich will die mir von der heutigen, schuldlosen Generation entgegengestreckte Hand ergreifen. Ich tue es mit Freuden in Anerkennung der Bestrebungen der jüngeren Generation und dem Wissen aus meiner eigenen Erfahrung, dass es in Mutterstadt auch in der Nazizeit Leute gab, die ihre Freundschaft und Wohlwollen, wenn auch nur heimlich, bezeigten. Auch unter den örtlichen Behörden waren Beamte, die das Schicksal der Juden im Rahmen ihrer Möglichkeiten erleichtern halfen. In erster Linie gedenke ich dabei der Polizei-Beamten Wilhelm Becker, Wilhelm Binder und des Gemeindesekretärs Wilhelm Reber.

Im Gegensatz zu vielen anderen Orten der Pfalz war die Bevölkerung in Mutterstadt etwas mehr neutral in ihrer Einstellung gegenüber der jüdischen Gemeinde in der Nazizeit. In Anbetracht unserer guten Freunde dort stimmten meine Brüder und ich überein, dass unsere alten Eltern ihrem Wunsch gemäß nach dem Ende des Krieges nach Mutterstadt zurückkehrten, sobald eine Wohnung in unserem Haus, Speyerer Str. 1, für sie frei gemacht werden konnte. Unser Haus- und Grundbesitz war nie verkauft, auch nicht unter Zwang. Meine Eltern verbrachten nach ihrer Rückkehr aus verstecktem Leben in Südfrankreich ihren Lebensabend in freundlichen Beziehungen in Mutterstadt.

Hiermit schließe ich meine Betrachtungen zum 9. November 1938 und rufe den jüngeren Generationen zu VERGESST NIE die Ereignisse jenes Tages.

New York, N. Y., USA, 27. Oktober 1988.

Ernest Loeb

 


Quelle: Niemand hatte das Herz sich zu rühren. Mutterstadt 1933-1945, E.Dittus u.a. (Hg.), S. 31f.
[Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Herausgebers]
[Text online auch unter: http://www.judeninmutterstadt.org/site41c.htm

Links zur Pogromnacht

Die Bedrängnisse Bad Dürkheimer Juden in der Nazizeit und die Ereignisse in der „Kristallnacht“ 1938, von Georg Feldmann
"Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt", von Heinz Kronauer
Der Pogrom vom November 1938 in Homburg, von Dieter Blinn
Die 'Reichskristallnacht' in Landau, von Otto Brunner
Die Reichspogromnacht in Schifferstadt, von Heinz Berkel
Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Der Abriss der Kaiserslauterer Synagoge, von Roland Paul
Die Reichspogromnacht in Kaiserslautern: Maria Herbig

Reichspogromnacht - Reichskristallnacht, zusammenfassende Darstellung von Sven Siener
"Sie verbrennen Dein Heiligtum", von Stefan Meißner
Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin, von Schoschana Maitek-Drzevitzky


Links zur Mutterstadter Synagoge:

Die Mutterstadter Synagoge. Erinnerungen von Ernst (Ernest) Loeb

http://www.synagoge-mutterstadt-derfilm.de

http://www.alemannia-judaica.de/mutterstadt_synagoge.htm

Links zur Ernst (Ernest) Loeb und seinem Nachlass:

http://www.judeninmutterstadt.org/site41c.htm

http://digifindingaids.cjh.org/?pID=314398