Der Pogrom vom November 1938 in Homburg

von Dieter Blinn


Die Synagoge Homburg/Saar um 1920

Am Vormittag des 7. November 1938 wurde in der deutschen Botschaft in Paris der Legationssekretär Ernst vom Rath Opfer eines Attentats, dessen Folgen er am späten Nachmittag des nächsten Tages erlag. Täter war der siebzehnjährige Herschel (Hermann) Grynszpan, ein Jude deutsch-polnischer Abstammung aus Hannover, der sich zu der Zeit bei Verwandten in Paris aufhielt. Über Hintergründe und Motive des Anschlags spekuliert die Fachwelt bis auf den heutigen Tag. Zumeist wird die Tat als Racheakt für die Massendeportation von ca. 15 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit zur östlichen Reichsgrenze und deren Abschiebung nach Polen interpretiert, von der auch des jungen Grynszpan Eltern betroffen waren. Eine andere Deutung geht von einem intimen Verhältnis zwischen Opfer und Täter aus und führt das Attentat auf rein persönliche Motive zurück; in der Tat verkehrten sowohl Grynszpan als auch vom Rath in der Pariser Schwulenszene, wo letzterer als Botschafterin oder Notre Dame de Paris bekannt war, ersterer sich als Strichjunge oder Zuhälter betätigte. Der Mord wäre dann auf eine verweigerte, wiewohl versprochen gewesene Leistung seitens des vom Rath – möglicherweise die Beschaffung von Ausreisedokumenten – zurückzuführen.

Wie dem auch sei, die Naziführung in Deutschland verstand es, den Anschlag von Paris wie seinerzeit den Reichstagsbrand propagandistisch auszuschlachten – der unbedeutende vom Rath wurde als erstes Opfer des "Weltjudentums" und Märtyrer der nationalsozialistischen Sache hochstilisiert – und als willkommenen Anlass für eine schon lange geplante und von fanatischen Antisemiten in der NSDAP geforderte Radikalisierung der Judenpolitik zu instrumentalisieren. Drahtzieher war Goebbels, der die Gunst der Stunde erkannte und wahrnahm, das in den Augen führender Nazis noch immer ungelöste Problem der Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und der ungehemmten Aneignung deren Vermögens – Ansätze dazu waren bekanntlich schon im Verlauf des Jahres 1938 unternommen worden – einer endgültigen Klärung zuzuführen; durch die forciert betriebene Aufrüstung seit 1936 waren die Reichsfinanzen zerrüttet, zusätzliche Ressourcen mussten ausgeschöpft werden. Auf seine Anregung gehen die Aktionen des 9. und 10. November 1938 zurück, die die Nazipropaganda als Ausfluss "spontanen" Volkszornes gegenüber den Juden hinstellte, in Wirklichkeit jedoch – zunächst eher konfus – von SA, SS und Schutzpolizei in bekannter Ungeklärtheit und Überlagerung von Kompetenzen und Machtbefugnissen organisiert und durchgeführt wurde und deren Ergebnis 35 Tote, 267 verbrannte Synagogen und etwa 7.500 demolierte jüdische Geschäftshäuser waren – das zersplitterte Glas eingeschlagener Schaufensterscheiben soll bekanntlich zur Bezeichnung Reichskristallnacht für die Gewaltmaßnahmen geführt haben.

In der Stadt Homburg erhob sich der spontane Volkszorn in Gestalt des örtlichen SS-Chefs, der den Rang eines Untersturmführers bekleidete und der mit der Durch-führung der "Racheaktion" gegen das in der Gemeinde noch lebende armselige Häuflein jüdischer Bewohner beauftragt war. Im Morgengrauen des 10. November trommelte er seine SS-Kollegen, darunter auch einen Gymnasiallehrer im Rang eines Oberscharführers, zusammen und instruierte sie dahingehend, dass als Zielobjekte der spontanen Erhebung die in propagandistischer Hinsicht einzig brauch-baren ausersehen seien: die Synagoge und das Geschäftshaus Aron Salmon, beide im Zentrum der Altstadt gelegen und Gegenstand öffentlichen Interesses; der jüdische Friedhof vor den Toren der Stadt schien auf Grund eben dieser Abgelegenheit nicht in die Überlegungen mit einbezogen worden zu sein. Die versammelte Mannschaft teilte sich daraufhin in zwei Gruppen, deren eine zum Einsatzort Synagoge marschierte, während sich die andere unter dem Befehl des genannten Studienrates zum Textilgeschäft Salmon in der Eisenbahnstraße – damals selbstredend schon Adolf-Hitler-Straße genannt – begab. Das Synagogenkommando nahm sich vor allem die Inneneinrichtung des Gotteshauses vor, deren einzelne Gegenstände inmitten des Raumes auf einen Haufen geschichtet und angezündet wurden – vor einer Brandschatzung des Gebäudes selbst hütete man sich wohlweislich, hätte diese doch eine erhebliche Gefahr für die benachbarten, Wand an Wand mit der Synagoge stehenden Häuser bedeutet; vorsorglich wurde die Feuerwehr herbeigerufen, die bei Eintreffen des Alarms schon in Bereitschaft lag. Um allerdings nicht ganz auf Publikumswirksamkeit verzichten zu müssen, wurde der auf dem Nordgiebel der Synagoge angebrachte Davidstern entfernt. Derweil hatte das Einsatzkommando "Salmon" die beiden großen Schaufensterscheiben des Ladens zertrümmert, auch sonst die Hausfront beschädigt und die Auslagen wie das gesamte Warenlager durch Zerreißen oder Zerschneiden unbrauchbar gemacht. Die Familie Salmon – Karl Salmon und seine Frau Alice mit der nicht ganz zwei Monate alten Tochter Mathel und dem sechsjährigen Sohn Fred sowie Karls 71 Jahre alte Mutter Rosa und Schwester Paula – hatte sich verängstigt in die Wohnung im ersten Stock des Hauses zurückgezogen, die nach Beendigung des Zerstörungswerks von der Mannschaft durchsucht wurde. Sie beschlagnahmte gefundenes Bargeld in Höhe von 20.000 RM – schon seit langem war die Familie gezwungen, ihre Ersparnisse anzugreifen und von der Substanz zu leben –, wovon man Frau Salmon auf deren flehentliches Bitten den lächerlichen Betrag von 100 Reichsmark zum Lebensunterhalt aushändigte; der Rest wurde auf ein Konto bei der Homburger Kreissparkasse überwiesen. Zum Abschluss der Aktion wurde die männliche jüdische Bevölkerung verhaftet und unterschiedlich lange, teilweise bis Ende Januar 1939, im Konzentrationslager Dachau festgehalten.

 

Quelle:

Text: Religionspädagogische Heft 3/1998, S. 21f.
Bild: http://www.der-weltkrieg-war-vor-deiner-tuer.de.tl/Homburg.htm

Link:

Die Bedrängnisse Bad Dürkheimer Juden in der Nazizeit und die Ereignisse in der „Kristallnacht“ 1938, von Georg Feldmann
"Menschen unter Gejohle aus dem Haus gezerrt", von Heinz Kronauer
Der Pogrom vom November 1938 in Homburg, von Dieter Blinn
Die 'Reichskristallnacht' in Landau, von Otto Brunner
Die Reichspogromnacht in Schifferstadt, von Heinz Berkel
Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Der Abriss der Kaiserslauterer Synagoge, von Roland Paul
Die Reichspogromnacht in Kaiserslautern: Maria Herbig

Die Nacht, in der die Mutterstadter Synagoge brannte. Der 10.11.1938 aus Sicht des Ernest Loeb
Reichspogromnacht - Reichskristallnacht, zusammenfassende Darstellung von Sven Siener
"Sie verbrennen Dein Heiligtum", von Stefan Meißner
Der 9. November aus der Sicht einer Jüdin, von Schoschana Maitek-Drzevitzky

Externer Link:

Podcast, erarbeitet von Christina Agne im Sommersemester 2010
im Rahmen einer Fachdidaktivveranstaltung Geschichte in der Universität des Saarlandes (wmv-Datei, 54,7 mb)