von Helmut Foth
Die von der GCJZ alljährlich verliehene
Buber-Rosenzweig-Medallie
"Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!"
So lautete die Schlagzeile der „Jüdischen Rundschau“ am 4.
April 1933. Der Leitartikel ihres Chefredakteurs Robert Weltsch nennt die am
Samstag davor inszenierte antijüdische Hetzkampagne „einen wichtigen
Tag in der Geschichte der deutschen Juden“. Dem antisemitischen Hass,
der nicht nur jüdischen Geschäftsinhabern, sondern der gesamten deutschen
Judenheit galt, begegnet er mit Selbstbewusstsein und sogar selbstkritischen
Tönen: “Weil der Jude sein Judentum nicht stolz zur Schau trug, weil
er sich um die Judenfrage herumdrücken wollte, hat er sich mitschuldig
gemacht an der Erniedrigung des Judentums … Die jüdische Antwort
ist klar. Es ist der kurze Satz, den Mose zum Ägypter sprach: Iwri anochi….Zum
Jude-Sein Ja sagen“. Weltsch, der diesem Aufruf eine ganze Leitartikelserie
folgen ließ, in der er u.a. auch christlichen Mitbürgern dankt, die
der Nazijudenhetze keinen Glauben schenkten und „in diesen schweren Tagen
den Glauben an die Menschheit gerettet haben“ , schreibt in geistiger
Nähe zu Martin Buber, der ihn 1909 als Student in Prag mit seinen später
berühmt geworden Reden über das Judentum entscheidend inspiriert hatte.
Martin Buber, der noch am 14.2.1933 in einem Brief formuliert: „Die Hitlerei
hat mir bisher direkt nichts getan, aber ich bin auf alles gefasst …“
, gesteht am 22.6.1933: „Die Atmosphäre wirkt destruktiv auf das
Atmungssystem der Seele“.
Buber erkennt nun schnell die Not der völlig verunsicherten Glaubensgenossen.
Er spricht im April und Mai 1933 und danach immer wieder durch kurze Beiträge
in der „Jüdischen Rundschau“ und anderen jüdischen Presseorganen
zu seinem Volk, seelsorgerlich ermahnend und beschützend.
„Der jüdische Mensch von heute ist der innerlich ausgesetzteste Mensch
unserer Welt ... Sie wollen erfahren, ob der Mensch ihnen noch widerstehen vermag,
und erproben sich am Juden. Wird er standhalten? Wird er in Stücke gehen?
Sie wollen durch sein Schicksal erfahren, was es um den Menschen ist. Sie machen
Versuche mit dem Juden, sie versuchen ihn. Besteht ers?“
„Die deutschen Juden sind mit dem jüdischen Weltschicksal konfrontiert
worden. Was immer nun weiter geschieht, sie werden nicht mehr anderswoher als
von dieser Konfrontation aus leben können. … Dass diese Stunde eine
Probe des Christentums ist, diese wichtige Tatsache geht nicht uns an; uns geht
an, dass sie eine Feuerprobe des Judentums ist. …Wenn wir unser Selbst
wahren, kann nichts uns enteignen. Wenn wir unsrer Berufung treu sind, kann
nichts uns entrechten. Wenn wir mit Ursprung und Ziel verbunden bleiben, kann
nichts uns entwurzeln“
Buber sieht die konkrete jüdische Schicksalsstunde verknüpft mit der
Frage nach dem Menschsein überhaupt, ob die Adamskinder dem Bösen
widerstehen können und ob es Taten der Mitmenschlichkeit geben wird. Es
klingt dieses ungeheure Vertrauen an, von Gott von Anfang bis zum Ende eingewurzelt
bleiben zu dürfen und die Verpflichtung, der ganz besonderen Berufung Treue
zu halten.
Buber arbeitet in diesen schwierigen Wochen und Monaten weiter an seiner Bibelübertragung,
den Gleichnissprüchen und Psalmen, wo häufig der Begriff der Adamskinder
vorkommt. Er bleibt Hüter der deutschen Sprache, während nicht nur
in der Hitlerpropaganda, sondern auch an Universitäten und Schulen diese
Sprache mit Füßen getreten wird. Bubers Bibelübersetzung war
auch immer geistiger Widerstand gegen den Ungeist der „Deutschen Christen“
und die Hitlerei!
Zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana im September 1933 konfrontiert
Buber seine Leser mit Gedanken, die in ihrer Wucht wohl an die Grenze des Zumutbaren
gegangen sind und auch heute noch gehen:
„Heute ist die Welt an der Geburt, heute stellt Er ins Gericht alle Lebensgebilde
der Welten. …Am Tag des Neuen Jahres kehrt die Welt in ihren Urzustand
zurück, von dem aus es sich entscheidet, ob sie neu ins Dasein tritt oder
verfällt; die Entscheidung aber hängt an der Umkehr. … Die Umkehr,
so lehren unsere Weisen, ist älter als die Welt …Weiß die deutsche
Judenheit noch, was dieser Tag ist? Weiß sie, dass das, was er aussagt,
nicht Bilder der religiösen Sprache, sondern allerunmittelbarste Wirklichkeit
ist? … Die deutsche Judenheit ist ins Gericht gestellt; besteht es darin,
wird ihm Erneuerung werden… Wir stehen nicht einzeln im Gericht, sondern
jeder als Israel, und nicht einzeln werden wir, wenn wir bestehen, die Erneuerung
empfangen“.
Buber, der lebenslang selbständig denkende Jude, der Synagogengottesdiensten
fernblieb und jüdisches Ritual und Pflichtgebet aus Überzeugung ablehnte,
ermutigt und mahnt mit der ganzen Kraft und Weisheit der urbiblischen Botschaft:
Die Umkehr ist älter als die Welt, im Gericht liegt das Angebot der Erneuerung
der ganzen Welt. Sie ist ins Gericht gestellt, „alle Lebensgebilde der
Welten“. Israel, d.h. auch, die deutsche Judenheit muss zusammenhalten,
Gemeinschaft werden. Und wie es kein zweiter vermochte, spricht seine „unreligiöse“
Sprache in den veränderten Alltag der ratlosen Zuhörer:
„Das Unheil, das über die deutsche Judenheit gekommen ist, hat aus
ihr, die keine Gemeinschaft mehr war, bislang noch nicht wieder eine Gemeinschaft
gemacht. Jeder von uns leidet seine Not, leidet die der Vertrauten mit, aber
wer von uns erleidet die Not der Gesamtheit, der der Modus ihrer Existenz, die
schicksalhafte, durch Leben und Werk beglaubigte Symbiose mit dem deutschen
Volk, zerstört worden ist?“
Buber hat selten seine Gefühle offen gelegt, sein Auftritt war stets nobel
und aristokratisch. Hier jedoch im Frühherbst 1933 ahnt man seinen Schock
über den unglaublichen Beziehungsbruch, der sich zwischen Deutschen und
Juden in diesen Tagen ereignet.
Ergreifend zu lesen ist der Jüdische Rundschau - Artikel „Die Kinder“
vom Mai 1933:
„Die Kinder erleben was geschieht und schweigen, aber nachts stöhnen
sie aus dem Traum, erwachen, starren ins Dunkel: die Welt ist unzuverlässig
geworden. Man hatte einen Freund, der Freund war selbstverständlich wie
das Sonnenlicht. Nun plötzlich sieht er einem fremd an, die Mundwinkel
spotten: Hast du dir etwa eingebildet, ich mache mir wirklich was aus dir? Man
hatte einen Lehrer, unter allen einen; man wusste: es gibt diesen Mensch, also
ist alles in Ordnung. Nun hat er keine Stimme mehr…Die gute Landschaft
selber, in der man wanderte und spielte, ist unheimlich geworden…Um an
der Seele dauern und wachsen zu können, braucht das Kind das Stetige, das
Verlässliche…Das Haus genügt nicht, die Welt gehört dazu.
Was ist mit der Welt geschehen? Aus dem vertrauten Lächeln ist eine Fratze
geworden.“
Buber erweist hier in notvoller Zeit eine Meisterschaft der Zusprache an jüdische
Eltern, die um die Seele des Kindes weiß, das nach Verlässlichem
greifen möchte, um „an der Seele wachsen zu können“. Wenn
heute Gestalttherapeuten, Psychoanalytiker und neuerdings sogar Neurobiologen
die große Erkenntnisleistung Bubers hinsichtlich seines Dialogischen Prinzips
neu entdecken; hier ist sie im Blick auf das bedrohte jüdische Familienleben
greifbar.
Er appelliert an die Eltern, sich der Einmaligkeit, nämlich Israel zu sein,
vertraut zu machen; und zwar Israel nicht im völkischen nationalen Sinne,
sondern im Gegenüber Gottes trotz aller Entblößung, Israel,
das „uneinreihbar geblieben ist in der Völkerschar“. Es ist
ein Hoffen aufgrund des Urbundes von Vorzeiten. Und dann folgt ein Gedanke,
den wir Christen eigentlich nur mit Scheu lesen können, weil er Einblick
gibt in den intimsten Seelengrund Bubers:
„ ….ich sage es mit Furcht und Zittern. Zu ´Israel` gehört
geschichtlich dieses Schicksal, so in das Schicksal der Völker verflochten
und so aus ihm entlassen zu sein … Aber zu Israel gehört auch die
Gnade, je in solcher Not den Urbund zu erneuern, durch den es entstanden ist.“
Bubers Fähigkeit, in chaotischer Zeit nicht allgemein zu jüdischem
Kultur- und Gemeinschaftssinn aufzurufen, sondern bekenntnishaft aus den Quellen
der Schrift für jüdische Gehalte und echte Gemeinschaft zu werben,
hat ihn zur unbestrittenen Leitfigur werden lassen. In tiefer Gläubigkeit
ist hier von Gott ohne Religion gesprochen worden.
Die Frage, warum der Zionist Martin Buber zu diesem Zeitpunkt Deutschland nicht
verlässt, obwohl er es immer wieder versucht hat, ist sehr schwierig zu
beantworten. Einerseits wurde er hier von der jüdischen Gemeinschaft gebraucht.
Andererseits wartete in Palästina die aus Deutschland emigrierte junge
Elite auf ihn. Waren es Ängste, das Haus der deutschen Sprache zu verlassen,
für ihn, der sie meisterhaft beherrschte? War es ein ablehnendes Gefühl
angesichts der sich abzeichnenden politischen Entwicklung in Palästina?
Eindeutige Äußerungen dazu von Buber selbst gibt es m.W. nicht.
Warum er nicht deutlicher aufruft, dieses Land zu verlassen, ist weit schwieriger
zu beantworten und nicht frei von tragischen Zügen.
Zerbrecht mir die alten Tafeln
Robert Weltsch hat Buber zum 80. Geburtstag mit einer Rede geehrt, die beeindruckend
die Entwicklung des großen Denkers, Kulturzionisten, Chassidismusforschers
und Bibelauslegers darlegt. Ihm ging es in immer tiefergehenden Stufen um ein
Thema: Erneuerung des westeuropäischen Judentums. Seine Parole war dabei:
Von innen. Alles Tun ist vergebens, wenn nicht in den Seelen der Menschen, die
diese jüdische Bewegung tragen, der Funke der großen Sehnsucht nach
Änderung des Lebens glüht. „Wir werden Zion nicht teilhaftig,
wenn wir es nicht in unserem Herzen erbauen.“ So klang das Motto des jungen
Bubers in romantisch verinnerlichtem Überschwang. Seine Zionssehnsucht
zielt auf die Wiedergeburt des jüdischen Menschen und mit ihm der ganzen
Menschheit ohne gesetzlichen Ballast; gedanklich in großer Nähe zu
Nietzsches Zarathustra:„Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln“.
Dieser Utopismus entfernte ihn immer mehr von Theodor Herzls nationalpolitischem
Pragmatismus. Bubers stärker werdende Beschäftigung mit der jüdischen
Volkskultur vor allem Osteuropas machte ihn bald zum Anführer einer jüdischen
Renaissance. Die durch den Prozess der Emanzipation entstandene Vereinsamung
jüdischer Individuen sollte durch den Wiederanschluss an eine „Gemeinschaft
der Geschlechter“ überwunden werden. Beer – Hofmann (1866 -
1945) der große jüdische Dichter, den übrigens Sigmund Freud
überaus schätzte, hat dieses sehnsuchtsgetränkte Empfinden in
dem vielleicht schönsten Gedicht dieser jüdischen Epoche, dem „Schlaflied
für Miriam“ 1897 in der letzten Strophe so ausgedrückt:
Schläfts du, Mirjam? Mirjam, mein Kind:
Ufer nur sind wir - und tief in uns rinnt
Blut von Gewesnen; zu Kommenden rollt's,
Blut unsrer Väter voll Unruh und Stolz!
In uns sind alle! wer fühlt sich allein?
Du bist ihr Leben - ihr Leben ist dein.
Mirjam, mein Leben, mein Kind - schlaf ein!
Die zweite Phase in Bubers Leben ist geprägt durch eine Entfaltung eines
Religionsbegriffes, der sich in sehr freier existentialistischer Weise der jüdischen
religiösen Tradition bedient. Umkehr, Tat, Heiligung der Welt und Zwiesprache
sind jetzt die Schlüsselworte einer Überzeugung, die frei ist von
jeglicher religionsgesetzlichen Verpflichtung und ein „vorsinaitisches“
Judentum (Abraham, Jakob, die Richter und Propheten waren Bubers Lieblingsgestalten)
propagiert. 1916, mitten im Weltkrieg, gründet Buber die Zeitschrift „Der
Jude“, ein einzigartiges Forum für lebendiges, selbstbewusstes jüdisches
Geistesleben und ein mutiger Schritt gegen den aufkommenden gewalttätigen
Antisemitismus.
Die Bibelübersetzung
Das wohl nachhaltigste Zeugnis, das Buber hinterlassen hat, ist seine Beschäftigung
mit der Bibel, der hebräischen Schrift. Schon vor dem Ersten Weltkrieg
spielte er mit dem Gedanken einer Neuübersetzung, um einem weitgehend säkularisierten
deutschen Judentum Zugang zu diesem größten Schatz der Tradition
zu ermöglichen. In den Kriegjahren zerschlug sich dieses Projekt, aber
Buber ließ auch nach dem Krieg nicht ab von der Frage: „ …was
das für ein Buch ist, im Sinn, in der Sprache, im Bau, warum es, trotz
allem, neu in die Menschenwelt der Gegenwart gestellt werden will, neu, nämlich
in seiner Ursprünglichkeit erneut …“. Es war 1925 der junge
christliche Verleger Lambert Schneider, der seinen neugegründeten Verlag
mit einer Bibelübersetzung beginnen wollte und Buber anschrieb. Dieser
verstand den Brief „wie ein Zeichen“ und bat seinen Freund Franz
Rosenzweig (1886 - 1929), den großen Religionsphilosophen und Begründer
des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt um Zusammenarbeit. Dieses
Unternehmen Bibelverdeutschung erscheint aus heutiger Sicht schier unglaublich,
gemessen an der persönlichen Belastung Bubers und der anspruchsvollen Zielsetzung
einer völlig neuartigen Übertragung. Hinzu kam Rosenzweigs schwere
Muskelerkrankung – er konnte in den letzten Jahre nicht mehr sprechen
und sich nur noch mit Hilfe seiner Frau über eine mühselige Apparatur
mit einem Finger verständigen.
Und Buber war ja keineswegs ein von Haus aus ausgebildeter Exeget. Er hatte
über die deutsche Mystik promoviert und sich bis dahin ausführlich
mit der reichen chassidischen Tradition beschäftigt.
Aber schon als Scheidungskind war er im großelterlichen Haus in Lemberg
reichlich in Kontakt mit der hebräischen und jiddischen Sprache gekommen,
sprach fließend Polnisch und wurde französisch unterrichtet. Großvater
Salomon Buber, ein wohlhabender Mäzen der jüdischen Gemeinde, Handelskammerrat
und Bankdirektor, war ein bedeutender Gelehrter und Herausgeber alter Midraschhandschriften.
Buber hat zunächst mit Rosenzweig und dann die vielen Jahre alleine gerungen
mit diesem gewaltigen Vorhaben. Jedem Begriff wollte er gerecht werden und ihn
wie neu hörbar machen. Darum hebt diese Übersetzung das gesprochene
Wort als unmittelbare An-Sprache an die Zuhörer hervor. Der Text soll der
deutschen Lautgestalt entsprechen. Dabei spielt die Gliederung des Textes in
„natürliche, von den Gesetzen des menschlichen Atems regierte Sprechabsätze“
(so genannte Kolen) eine große Rolle. Die Druckfassung dieser Bibel zeigt
augenfällig auch bei Erzähltexten die Gliederung in Sinnzeilen.
Ein zweites bezeichnendes Gestaltungsprinzip ist der Rhythmus. Für Buber
ist darunter vor allem „die in einer sinnreichen Ordnung erscheinende
phonetische Verbindung eines Gleichbleibenden mit einer Mannigfaltigkeit zu
verstehen“. Diese phonetische – rhythmische Wiederkehr von Lauten,
Lautgefügen, Worten und Wortfolgen war Buber außerordentlich wichtig.
Ebenso zu beachten war für ihn das Leitwort, das sich in einem Textzusammenhang
sinnreich wiederholt und seine dynamische Gesamtwirkung fördert. Dies bedeutet
dann für ihn, dass wurzelverwandte hebräische Wortgruppen durch wurzelverwandte
deutsche Wortgruppen wiedergegeben werden sollen: z.B. chäsad als Huld,
chasad als hold sein, chasidim als die Holden. Der Gleichklang von Worten macht
die Botschaft greifbar. Die ganze Bibel ist für Buber ein grandioses Netzwerk
von Klang, Wort- und Inhaltsbezügen. Darum ist für ihn die Absicht
der biblischen Endredaktion, die diese Zusammenhänge hergestellt oder unterstützt
hat, so wichtig. Eine glänzende Idee, die erst in allerjüngster Zeit
in der Bibelexegese Eingang findet.
Buber war ebenfalls wichtig, Pessach nicht unübersetzt als technisiertes
Passah stehen zu lassen, sondern die lebendige Assoziation jenes Übersprungs
oder Übergangs (2. Mose 11 und 13) wachzuhalten :„Übersprungsmahl
ist es IHM“. Und der schabbat muss aus der Erstarrung des Sabbats in die
Vitalität der Feier zurückgerettet werden: „Gedenke des Tags
der Feier“ (2. Mose 20, 8). Ein anderes interessantes Übersetzungsbeispiel
steckt in der Kain und Abel Geschichte (1.Mose 4). Luther übersetzt V.
9: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir aus der Erde“.
Nun steht aber das Wort Blut (hebr. dam) im Plural. Buber weiß offensichtlich
um die talmudische Tradition, dass bei einem Mordfall auch die Nachkommen betroffen
sind und übersetzt „Die Stimme des Geblüts deines Bruders schreit
zu mir aus dem Acker“. Eine der Lieblingserzählungen Bubers war das
Kapitel von Hagars Flucht, die in seinen verschiedenen Schriften zur Bibel immer
wieder auftaucht: Gott ist auf der Seite der Unterdrückten. Sie will er
in die Freiheit führen. Buber bleibt auch hier seinem Leitwortprinzip treu:
„Sara drückte sie“ „drücke dich unter ihre Hände“
„erhört hat ER deinen Druck“. Sicher kannte Buber Paulus fragwürdige
Deutung dieser Erzählung im Galaterbrief, in der Sara mit der Christusgemeinde
identifiziert wird und Hagar die verstoßene Synagoge verkörpert.
Buber sieht sich und sein Volk ganz als Hagar, der Gottes Zuwendung gilt. Das
ist der neue Midrasch bei Buber, der gelesen und verstanden wurde in Zeiten
der Not und Unterdrückung, der erzählt von IHM, der auch den Druck
erhören kann. Die aktuellen Lebensumstände sind in der Deutung Bubers
in der Erzählung gespeichert. Im Bibeltext ist auch die neue, Angst machende
Situation, sind Freund und Feind schon erkannt, man muss sie nur richtig wiedergeben.
Dieser spezifische Midraschstil blühte in der mittelalterlichen Verfolgungszeit
auf. Buber erweckt ihn wieder zum Leben.
Der Dialog
Buber liebte den offenen Dialog. Seine originelle Weise, das Wort der Schrift
in die Zeit sprechen zu lassen, haben ihm schon gleich nach dem Ersten Weltkrieg
das Gespräch mit Christen möglich gemacht. Auch Katholiken und Protestanten
lernten mit Juden im 1920 gegründeten Freien Jüdischen Lehrhaus in
Frankfurt, das dann deutlich von Bubers Mitarbeit geprägt wurde; das Lehrhaus,
eine fantastische Institution, über die eigens zu berichten wäre.
Katholische und evangelische Theologen hielten dort Kurse. Buber hat sich mit
Albert Schweitzer über Kiergegaard brieflich ausgetauscht, auf einen Gerhard
von Rad Aufsatz zum Königtum Gottes ausführlich reagiert und mit dem
religiösen Sozialisten und Theologen Leonard Ragaz intensivsten Gesprächsaustausch
gepflegt. Paula Buber heiratet er, als sie noch katholisch war – sie wird
erst später zum Judentum konvertieren.1926 gründet er mit dem protestantischen
Mediziner von Weizsäcker und dem katholischen Theologen Wittig die Vierteljahreszeitschrift
„Die Kreatur“. Unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrter propagieren
die Herausgeber „die Verbundenheit mit der geschöpflichen Welt sowie
den gemeinsamen Glauben an den Ursprung, der die Menschheit zur Erneuerung ihrer
geistigen Grundlagen und zum verantwortlichen Handeln in der Welt aufruft.“
Eine Losung, geprägt von Bubers ganzheitlichen Idee und dem Ziel einer
religions- und konfessionsübergreifenden Ethik.
1926 brachte Bubers Zeitschrift „Der Jude“ ein Sonderheft zum Thema
„Judentum und Christentum“ heraus, in dem so prominente Theologen
wie Martin Dibelius und Alfred Jeremias Beiträge zu biblischen Themen schrieben.
Im März 1930 hält er vor den deutschsprachigen Judenmissionsgesellschaften
in Stuttgart einen Vortrag über „Die Seele des Judentums.“
Buber teilt gleich zu Beginn in völliger Offenheit einer christlichen Judenmission
eine kategorische Absage und sieht in ihr sogar eine Hinderung des Gottesreiches.
Für ihn schwingt die Seele des Judentums elliptisch um zwei Punkte:
„Der eine ist die Urerfahrung, dass Gott vom Menschen durchaus abgehoben,
seiner Fassung durchaus entrückt, und dass er doch in unmittelbarer Beziehung
eben diesem ihm in unbedingter Weise inkommensurabeln Menschen gegenwärtig
und zugewandt ist.“ „Und der andere Brennpunkt … ist das Grundgefühl,
dass die erlösende Kraft Gottes überall und immer wirkt und dass doch
nirgends und niemals ein Erlöstsein besteht.“
Und zum Ende hin spricht er den großartigen Satz:
„So von euch gesondert, sind wir euch beigegeben. …. Für euch
ist das Buch ein Vorhof, für uns ist es das Heiligtum. Aber in diesem Raum
dürfen wir gemeinsam weilen, gemeinsam die Stimme vernehmen, die in ihm
spricht. Das bedeutet, dass wir gemeinsam arbeiten können an der Hervorholung
der verschütteten Gesprochenheit dieses Sprechens, an der Auslösung
des eingebannten lebendigen Wortes.“
Das Gespräch am 14. 1.1933 im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus (das
übrigens 1926 von Buber mitbegründet wurde) mit dem Bonner Neutestamentler
Karl L. Schmidt ist in die Geschichte eingegangen. Schmidt, überzeugter
Demokrat – er wird bald Hitlerdeutschland verlassen - ist Buber wohlgesonnen,
kann sich aber von der Rolle des christlichen Schulmeisters nicht völlig
lösen: Buber muss sich im Jüdischen Lehrhaus (!) fragen lassen, warum
er nicht an den christlichen Messias glaubt. Seine aufrichtige Antwort: „Eine
Zäsur nehmen wir in der Geschichte nicht wahr. Wir kennen in ihr keine
Mitte, sondern nur ein Ziel, das Ziel des Weges Gottes, der nicht innehält
auf seinem Weg.“ Dieses Gespräch ist sehr verklärt worden, wahrscheinlich
wegen Bubers großartigem Schluss, dem Bild vom vollkommenen harmonischen
Wormser Dom und dem Judenfriedhof mit der Asche und dem lautlosen Jammer der
Urväter, mit denen sich Buber identifiziert, weil „aufgekündigt
ist uns nicht worden“. Schmidt sagt übrigens am Ende seiner Erwiderung
zu Buber:
„Wenn die Kirche christlicher wäre, als sie es ist, so würde
die Auseinandersetzung mit dem Judentum schärfer sein, als das jetzt sein
und darf. Wir Christen dürfen nicht müde werden, diese eine Auseinandersetzung
wach zu halten.“
Nun, die Schärfe der „Auseinandersetzung“ folgte knapp ein
halbes Jahr darauf. Gerhard Kittel, der bekannte Tübinger Neutestamentler
und Herausgeber des berühmten „Theologischen Wörterbuchs zum
Neuen Testament“ (der erste Band erschien 1933) hatte eine Schrift „Die
Judenfrage“ (sie erreichte 3 Auflagen) geschrieben und sie mit einem persönlichen
Brief an Buber – den er offenbar schätzte – geschickt, auf
Zustimmung hoffend. Kittel will den deutschen Juden nur noch den Status der
Fremdlingschaft als das von Gott gewolltes Schicksal einräumen, die Staatsbürgerrechte
entziehen, ihre deutsch – jüdische Kultur gettoisieren und ihre Literatur
- auch die Martin Bubers - aus dem deutschen Sprachraum ausschließen.
Er erörtert sogar als eine Lösungsmöglichkeit „Man kann
die Juden auszurotten versuchen (Pogrome)“ , die er dann jedoch als unwirksam
und unchristlich verwirft. Buber hat in zwei öffentlichen Antworten mit
großer Noblesse das Judentum gegenüber Kittel verteidigt. Ein persönlicher
Brief an Kittel endet mit tiefer Resignation „ Sie reden in einem Raum,
der meiner Antwort verschlossen ist“ .
Gershom Scholem hatte in Jerusalem diese Schrift mit Ekel und Empörung
gelesen: „Welche Verlogenheit, welches zynische Spiel mit Gott und der
Religion“ schreibt er am 24.8.33 an Buber.
Einzig der Neustamentler Professor Ernst Lohmeyer aus Greifswald drückt
Buber gegenüber seine mit Scham erfüllte Solidarität aus. Warum
versteckten sich Bubers christliche „Dialogpartner“ in dieser entwürdigenden
Situation?
Noch im April hatte Buber auch für die Christen geschrieben: „Wie
verhaltet ihr euch in eurer Schicksalsstunde? Die Nazis sind nicht nur unser
Problem! „Dass diese Stunde eine Probe des Christentums ist, diese wichtige
Tatsache geht nicht uns an“.
Aufbau im Untergang
Bubers Gedanken kreisten schon vor 1933 um das Leid des Menschen und Gottes
mitleidende Liebe. Im August 1922 schrieb er an Rosenzweig: „Je älter
ich werde, liebe ich den namenlosen Propheten mehr, ich erkenne meine angestammte
Welt“. 1923 und 1924 hatte er im Jüdischen Lehrhaus Psalmenkurse
und Vorlesungen über den Knecht Gottes gehalten. Interessant - die gemeinsame
Bibelübertragung gelangt bis zu Jesaja 53, als der schwer leidende Rosenzweig
stirbt. 1938 scheitert Buber zunächst am Hiobbuch und als er 1940 für
ein holländisches Sammelwerk zur Religionsgeschichte Israels den Abschnitt
über das Leidensmysterium im Jesajabuch geschickt hatte, kam die Post „unzustellbar“
zurück. Holland war von Hitlers Wehrmacht besetzt worden. Dies war auch
eine wichtige Erfahrung für Buber: Biblische Texte können sich in
der Lebensgeschichte verweigern.
1933 erscheint als Band 1 der Schockenbücherei „Die Tröstung
Israels. Aus Jeschajahu 40 -55, Hebräisch mit der Verdeutschung von Martin
Buber und Franz Rosenzweig“.„Was diese Übersetzung für
den Juden leistet, ist hier besonders intensiv zu fühlen. Das ist so stark,
dass auch der Unwissende der Täuschung erliegen mag, das Urwort unmittelbar
zu vernehmen“ hieß es damals in einer Buchbesprechung. Biblische
Texte, so gut wie unkommentiert, jedoch in Buberscher Manier treffend übertragen,
sprechen in die Zeit der beginnenden Not und Verwirrung. Wo die menschliche
Stimme zu verstummen droht, spricht das biblische Urwort, bewegend, verstehend,
an die Hand nehmend.
Aus der Kraft dieser Tröstung und wird Buber gemeinsam mit Leo Baeck zum
Hirten der deutschen Judenheit. Er übernimmt zentrale pädagogisch
– erwachsenbildnerische Aufgaben, startet Ende 1933 die Neugründung
des Jüdischen Lehrhauses und leitet ab 1934 die „Mittelstelle für
jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland“.
Sein Schüler und Freund Ernst Akiba Simon (1899 – 1988) , der später
die großes pädagogische Institution in Israel sein wird, war 1928
nach Palästina ausgewandert, kommt aber 1934 mit Frau und kleinem Sohn
auf Bitten Bubers für ein halbes Jahr ins Hitlerdeutschland, um beim Aufbau
einer jüdischen Erwachsenen- und Lehrerfortbildung zu helfen.
Jüdische Lehrerinnen und Lehrer wurden aus allen staatlichen Schulen und
Ausbildungsstätten ausgeschlossen. Das ganze Lehrerausbildungssystem musste
von Grund auf neu gestaltet werden. Aber mit welchen Inhalten, mit welchem Ziel,
zum Hierbleiben oder zur Auswanderung? Fragen und Aufgaben, die wir uns heute
in ihrer Problematik kaum noch vorstellen können. Die Ausbildung und Unterrichtung
wurde gemeistert in jüdischen Privatschulen, Volkshochschulen, Landschulheimen
(das Einstein – Haus in Caputh bei Potsdam war eines davon), auf Wochenendfreizeiten,
Leiterkursen und mit Rundbriefen. Joseph Walk hat dieser nur heroisch zu nennenden
Leistung eine bedeutende große Untersuchung gewidmet. Darin erzählt
er selbst seine erste Begegnung auf einer Junglehrerlernzeit 1934 mit Buber
, verschweigt aber auch nicht Bubers anfängliche Gegnerschaft unter assimilierten
konservativen Kreisen in der Reichsvertretung und auf anderer Seite die Kritik
der Orthodoxen, die ihre jungen Gemeindeerzieher Buber wegen dessen unhalachischem
Religionsverständnis nicht anvertrauen wollten. Ernst Simon kommentiert
die damals anzutreffende unerschütterliche Lernintensität und ungebrochene
Lebenskraft mit den Worten: „Nie waren Vorträge besser besucht, Zeitungen
stärker verbreitet, Organisationen lebendiger erfüllt als in dieser
Notzeit.“ Das erzieherisches Motto fasst er zusammen „Wir sind weder
Kanaaniten noch Preußen, sondern die Enkel der Propheten und der Pharisäer
und doch auch, Schüler des Humanismus und der Aufklärung.“ .
Seinen großen Lehrer - dem er später den Ehrentitel „Brückenbauer“
verleiht, würdigt er schon früh mit den Worten: „Buber ist mit
uns auf dem dunklen Weg. Die Fackel der Wahrheit hält er nicht in der Hand,
so wenig wie irgend einer heute unter den Menschensöhnen. Aber das fernher
leuchtende Licht leitet ihn und uns.“
Buber verlässt im Frühjahr 1938 sein Heppenheimer Domizil, um in
Jerusalem eine für ihn errichtete Professur zu übernehmen, zuerst
immer noch mit der Absicht, für einige Monate den in Deutschland Verbliebenen
nicht nur erzieherisch beizustehen.
Seine Rede Sie und Wir zum Jahrestag der Kristallnacht geht dann mit Bitterkeit
auf die fürchterliche Barbarei in Deutschland ein. Sie drückt Bubers
tiefe Erschütterung aus über das von ihm eigentlich unvorstellbare
Ende der deutsch – jüdischen Symbiose.
Der neue Midrasch
1936 erschienen von Martin Buber „Dreiundzwanzig Psalmen in der Urschrift
mit der Verdeutschung“ als Band 51 in der Schocken-Bücherei. Ein
Jahr davor waren als Buch 14 der Bibelübertragung Die fünf Bücher
der Weisung (Die Psalmen) herausgekommen nebst einer auch noch der Neuauflage
beigelegten und sehr instruktiven kleinen Schrift “Zur Verdeutschung der
Preisungen“.
Buber hat in dieser Auswahl „23 Klage- und Dankpsalmen des Einzelnen mit
solchen vereinigt, in denen Drangsal und Rettung der Gemeinschaft zugesagt wird.“
In der kurzen eineinhalbseitigen Einleitung zum hebräisch-deutschen Text
stellt er thematisch die einzelnen Psalmen vor. Interessant ist nun, dass keiner
dieser Psalmen im jüdischen Gottesdienst vorkommt – die Tradition
begründet dies damit, dass das Lob und die Anbetung der Gemeinde vorherrschend
sein soll und nicht die Nöte des Einzelnen. Buber „erfindet“
nun eine neue liturgische Reihenfolge, außersynagogal, weltlich. Davon
hatte er ja immer geredet, dass das Wort sich selbst Bahn sucht, ganz unmittelbar,
in die Situation der Existenz hinein.
So sagt er folglich weiter: „Lebensgeschichtlich also sind die hier ausgewählten
Psalmen angeordnet“. Und er lässt die Reihe beginnen mit Psalm 130:
„Aus Tiefen rufe ich dich, DU ! Mein Herr auf meine Stimme höre!“
Das Schicksal des gebeugten Israel im Nazideutschland spricht plötzlich
direkt aus dem Text: die großspurigen Propagandatöne eines Goebbels
(„Ausrotte ER alle glatten Lippen, die großrednerische Zunge!“
12,4), die Judenhetze des Stürmers („der Feind höhnt DICH! Nichtig
Volk schmähn deinen Namen!“ 63, 18), der herausgeputzte dreiste Göring
(„Drum ist Hoffart ihr Halsgeschmeid, hängt Unbill als Putz ihnen
um. Aus dem Fett dringt ihr Auge hervor“, 73, 6f), die persönlichen
Erniedrigungen auf der Straße, Schläge im Lager und Folterkeller
(„Vor den Argwirkenden rette mich, befreie mich vor den Männern der
Bluttat! 59, 3), die religiöse Verhöhnung („Meine Träne
ist mir Brot worden tages und nachts, da man all den Tag zu mir spricht: Wo
ist dein Gott?“. 4, 4 + 11), das Harren und Dürsten nach einem Ende
der Pein („Wie die Hinde röhrt an Wasserbetten, so röhrt meine
Seele Gott nach dir“, 42, 2f). Die Aufstellung ließe sich in faszinierender
Weise fortführen.
Alle Sorgen liegen hier auf ihm, dem alten guten Bibeltext in der Buberschen
Übertragung und Anordnung, der die Augen öffnet für das, was
man immer noch nicht wahrhaben will, dem aber vertraut werden darf, der den
Verstummten wieder Stimme gibt.
Die deutsche Judenheit im Jahre 1936 war ausgegrenzt, sozial vernichtet, tagtäglich
öffentlich beschämt und der Rechtlosigkeit preisgegeben worden. Mit
Texten dieses Psalmbüchleins kam alle Wut und Verzweiflung zum Ausdruck,
konnte aber auch ins Antlitz eines wieder vertrauten DU geschaut werden.
Aus ists mit der Treue
Unter den Adamskindern
Wahnspiel reden sie
Jedermann mit seinem Genossen. 12,2f
Sie verbrannten
Alle Gegenwartsstätten der Gottheit im Land 74,8
die grundlos mich hassen …
die aus Lug mich befeinden.
Wo ich nicht raubt, da soll ich erstatten. 69, 5f
Entfremdet war ich meinen Brüdern,
ausheimisch den Söhnen meiner Mutter. 69, 9
Verderbt, gräulich ward ihre Sitte,
keiner ist mehr, der Gutes tut.
Vom Himmel lugt ER
auf die Adamskinder,
zu sehen, ob ein Begreifender west,
ein nach Gott Fragender. 14, 1f
in Verstecken würgt er den Unsträflichen,
seine Augen stellen dem Elenden nach.
Er lauert im Versteck
Wie der Löwe in seinem Dickicht. 10, 8f
Hätte ich gesprochen: „Erzählen will ich’s wies ist!“
da hätte ich das Geschlecht deiner Söhne verraten. 73, 15
O wehe mir,
dass ich gegastet in Meschech,
angewohnt bei Kedars Gezelten!
Zu lange gegastet hat meine Seele
bei dem Hasser des Friedens 120, 5f
Der jüdisch – deutsche Dialog ist mit diesen Worten auch für Buber gescheitert. Das Land, seine Sprache, seine Menschen sind zu „Kedar“ geworden. Kedar ist in der Bibel ein feindlicher, bedrohlicher ismaelitischer Nomadenstamm. Mit diesem Texthinweis wird der antisemitische Mythos des rastlosen Juden konvertiert. Eine brillante Form des geistigen Widerstandes!
Im letzten Drittel dieser Psalmenreihe (ab Psalm 4) klingen Hoffnung und Zuversicht an. Das sonst unverständliche, stereotype „Sela“ wird nun stets mit dem mutmachenden „Empor!“ übertragen. ER kann sein Volk nicht im Stich lassen. Zion wird Wohnung sein.
Eine Rebe ließest du ziehn aus Ägypten,
vertriebst Stämme, sie aber pflanzest du ein …
ordne dieser Rebe zu,
dem Senkling, den deine Rechte gepflanzt hat. 80, 9+15
Wenn ER kehren lässt die Heimkehrerschaft Zions,
werden wie Träumende wir…
Die nun säen in Tränen,
im Jubel werden sie ernten. 126, 1+5
Empor!
Fest ist mein Herz, Gott,
fest ist mein Herz. 57, 8
Zum Abschluss
Buber hat während des Krieges und in der Zeit danach zur großen Katastrophe,
die dem jüdischen Volk widerfahren war, auf eine merkwürdig stille
Weise reagiert. Er sprach von der Gottesfinsternis und nannte einmal die Shoah
die große Wunde in der Ordnung des Seins. Der Jude bleibt für ihn
Zeuge der Unerlöstheit der Welt. Er hatte Jahre zu vor in einem Aufsatz
fast prophetisch dargelegt, dass er keinen direkten Sinn in der Geschichte zu
sehen vermag. Unermüdlich setzte er im neuen Staat Israel seine Kraft in
den Aufbau einer Erwachsenenbildung und in die sprachliche Integration von Neueinwanderern
und vollendet die Übertragung der Schrift. Er hielt der fundamentalen jüdischen
Pflicht die Treue, Trauer und Verlust durch vertiefendes Lernen zu überwinden.
Nicht verziehen haben ihm viele jüdische Kreise, dass er schon zu Beginn
der 50er Jahre in Deutschland die Versöhnungshand ausstreckte, sich ehren
ließ (Hamburger Goethepreis 1952, Friedenspreis des deutschen Buchhandels
1953) und vor deutschem Publikum redete.
Buber ist heute in Israel – vor allem in den jüngeren Generationen
– weitgehend vergessen. Für viele Theologen in den verschiedenen
„Judentümern“ stellt sein originelles, einst so wirkungsreiches
unhalachisches Verständnis der jüdischen Tradition keine interessante
Option mehr dar.
Bei der Feier zum Abschluss der Bibelübertragung 1961 in Bubers Jerusalemer
Haus sagte Gershom Scholem die tragischen Sätze: „Historisch gesehen
ist sie nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern …das
Grabmahl einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung. Die Juden, für
die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr.“
Wie können wir Christen dieses kostbare Geschenk annehmen und angemessen
mit ihm umgehen? Wohl kaum jemand wird Bubers unvergleichliches Einfühlungsvermögen
in die Schrift – den ewig sprudelnden Brunnen, wie er sie einmal nannte
– zu erreichen vermögen. Aktuell jedoch bleibt seine Forderung, den
Text immer wieder neu sprechen zu lassen, das heißt auf ihn zu hören
und ihn nicht nur visuell wahrzunehmen. Er wird dann ganz im Buberschen Sinne
zur Anrede und bleibt vor Abnutzung verschont. Dem Bibelwort seine ursprüngliche
Gesprochenheit wiederzugeben, schließt aber auch die Beachtung Bubers
Übertragungs- und Auslegungsprinzipien mit ein: den Text in seiner Endgestalt
als Sinn- und rhythmische Einheit zu erfassen versuchen, den Leitwörtern
nachzuspüren und begriffliche Vernetzungen zu entdecken.
Bubers ursprüngliche Übertragungsarbeit mit Rosenzweig war außerdem
eine dialogische, die intensivstes Eindringen in den Wortgehalt zur Folge hatte.
Das bedeutet für die hermeneutische Praxis heute, dass sich gelingendes
Schriftverständnis in Gemeinschaft vollzieht, weil ja auch der biblische
Text in Gemeinschaftsarbeit überliefert wurde.
Sicherlich werden jedoch erst persönliche Begegnungen mit jüdischer
Auslegungstradition und das gemeinsame Lernen mit jüdischen Lehrern und
Rabbinern ungeahnte Möglichkeiten der Texterschließung offenbaren.
Buber erinnert 1961 in seiner Ansprache anlässlich der Vollendung der
Bibelübertragung an einen kritischen Satz Franz Rosenzweigs aus dem Jahr
1925, als beide ihre Übersetzungsarbeit begannen: „Unter Bibel versteht
heut der Christ nur das Neue Testament, etwa mit den Psalmen, von denen er dann
noch meist meint, sie gehörten zum Neuen Testament. Also werden wir sie
missionieren.“
Und Buber schließt mit den Worten: „Ich bin sonst ein Gegner alles
Missionierens …Aber diese Mission da lasse ich mir gefallen, der es nicht
um Judentum und Christentum geht, sondern um die gemeinsame Urwahrheit, von
deren Wiederbelebung beider Zukunft abhängt. Die Schrift ist am Missionieren.
Und es gibt schon Zeichen dafür, dass ihr ein Gelingen beschieden ist.“
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Dieser Aufsatz stammt aus dem Buch: "Über den Umgang mit den Heiligen Schriften", S. Meißner/G.Wenz (Hg.), LIT-Verlag 2007. Veröffentlichung mit Genehmigung des Autors. Hier erfahren Sie mehr... über das Buch!
Hier finden Sie den Aufsatz: "Martin Buber - Leben und Werk" von Andreas Schmidt.
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