Spurensicherung - Lebenslauf einer Ingenheimer Jüdin
Teil 5

Taub und abgemagert
Wiedersehen mit Vater und Mutter

Ungefähr zu der Zeit, in der ich wieder gesund geworden bin, hatten die Russen das Lager besetzt. Unsere einzige Rettung, die Befreiung, war am 8. Mai 1945 verwirklicht worden. Zuerst musste ich wieder laufen lernen und war zunächst gehörlos. Es hat lange gedauert, bis ich wieder etwas essen konnte, da mein Magen anfangs nichts mehr aufnahm. Außerdem musste ich ständig Medikamente einnehmen, damit sich mein Körper wieder normalisierte. Aber auch heute noch habe ich bleibende Schäden, die aus dieser Zeit herkommen. Diese Schäden machen sich durch Herzbeschwerden und auch sonstige gesundheitliche Leiden bemerkbar.

Nach langer Zeit traf ich meine Mutter wieder, wir fielen uns überglücklich in die Arme. Sie hatte mir viel zu erzählen. Es hatte sie auch ziemlich mitgenommen. Sie musste in letzter Zeit helfen, Transporte auszuladen, die wegen der Rückzüge von Auschwitz kamen und wochenlang ohne Wasser und WC unterwegs waren. So stellte Theresienstadt am Ende ein Auffanglager mit 60.000 Insassen aus 12 Nationen dar; bei unserer Ankunft waren es lediglich 30.000. Mutter konnte oft nur die Skelette von den Toten in den einzelnen Güterwagen vorfinden. Es ist bis heute nicht bekannt, ob überhaupt welche von den Rückzügen aus Auschwitz am Leben geblieben sind. Weiter erzählte sie mir, dass vor der Befreiung zwei Vergasungstermine festgesetzt waren, diese jedoch das internationale Rote Kreuz verhinderte. Auch berichtete sie mir, wie sie zusah, als ein SS-Mann ein kleines Judenkind in die Höhe warf und mit der Bajonette wieder auffing.

Grabstein eines KZ-Opfers

Aber noch ein weiteres Erlebnis schilderte sie mir: Einmal meldete sich eine ausländische Kommission zu einer Besichtigung des Lagers an. Die Kommission traf Theresienstadt aber in bester Ordnung und Hochglanz an, laut Schild waren alle Bäckereien und Metzgereien in Betrieb, obwohl dies doch nie der Fall war. Es roch an diesem Tag sogar nach Brot, während wir in unseren Lagern langsam verhungerten.

Nachdem die Russen uns befreit hatten, kam Anfang Juni der Aufruf in ganz Deutschland, die Juden sollten in ihre Heimat zurückkehren. Da so gut wie keine Verkehrsverbindung mehr intakt war, konnten wir zunächst aber nicht an eine baldige Heimkehr denken. Auch wurde ich plötzlich wieder von einer Krankheit befallen, aber auch diese überstand ich. Als ich wieder halbwegs genesen war, kam dann tatsächlich ein Bus unter der Rot-Kreuz-Flagge mit einem Amtsarzt aus Neustadt und einer Schwester an, um alle Pfälzer Juden wieder in ihre Heimat zurückzubringen. Dabei hatte [ich] wieder einmal Glück, denn es konnten nur gesunde Fahrgäste mitfahren. Im "Gelobten Land" angekommen, hatte ich 30 und meine Mutter 50 Pfund abgenommen. Auch erfuhren wir sogleich das Schicksal meines Vaters, der sich schon einige Zeit zu Hause aufhielt. Als er in das Arbeitslager nach Heidelberg kommen sollte, gelang ihm die Flucht. Er tauchte vorläufig bei Bekannten in Schwetzingen unter. Nachdem er dann die Information bekam, dass die Franzosen Landau besetzt hatten, schwamm er über den Rhein und hielt sich einige Tage lang in Landau bei Freunden auf, bis er schließlich nach Ingenheim heimkehrte.

Er war immer der Schutzpatron der Familie, der in Notzeiten, als wir nicht aus dem Hause gehen konnten, für das Essen sorgte. Er verzichtete sogar wegen meiner Mutter und mir auf den größten Wunsch seines Lebens, als man ihm nach gut abgeschlossenem Studium für Opernsänger eine Stellung in Karlsruhe, im Falle einer Scheidung anbot. Doch diese Frage stand erst gar nicht zur Debatte.

Eines sei zu meinem Bericht noch angemerkt: Meine Mutter und ich hatten sehr viel Glück. Einige unserer Verwandten (zwei Schwestern meiner Mutter kamen in Auschwitz ums Leben, meine Großeltern starben ebenfalls in Auschwitz, nachdem sie nach dem Frankreichfeldzug - sie wohnten damals in Straßburg - deportiert wurden) mussten die NS-Herrschaft mit dem Tode bezahlen.

Auch möchte ich bei der Gelegenheit zwei Gründe für die Judenverfolgung festhalten: Als erstes ist sicherlich die hohe Intelligenz vieler Juden eine Ursache. Das beweist doch die Tatsache, das mindestens 75% der Häftlinge in Theresienstadt drei oder vier Sprachen beherrschten. Der zweite Grund ist der folgende: Durch das Gesetz, nach dem die Juden nicht körperlich arbeiten sollten, waren sie doch mehr oder weniger auf den Handelssektor angewiesen, dem sie sich dann auch erfolgreich zuwandten. Hitler konnte jedoch nicht verkraften, dass eine kleine Minderheit so viele Fäden in der Hand hatte.

Eigentlich erzähle ich von dieser schrecklichen Zeit sehr ungern, weil es doch keiner recht glauben möchte, dass ein Mensch so etwas erleben kann. Es klingt doch so unwirklich wie ein Märchen. Ich habe über dieses Thema noch nie mit meiner Tochter gesprochen, auch bei einigen Besuchen meiner Freundin, die damals mit mir im Konzentrationslager Theresienstadt war, ist noch nie, aber wirklich noch nie, ein Wort über dieses Thema gefallen. Ich habe, wenn ich von diesen furchtbaren Ereignissen berichte, eine geheime Angst, dass das ein Nachspiel haben könnte.

Links zum jüdischen Leben in Ingenheim

Die Reichspogromnacht in Ingenheim, aus einem Vernehmungsprotokoll
Spurensicherung - Lebenslauf einer Ingenheimer Jüdin im Dritten Reich
Kurzinformationen über die Synagoge in Ingenheim

Hier etwas über Anselm Schopflich Lévi; einen Rabbiner Ingenheims (19. Jhd.)
Hier finden Sie Bilder und weitere Informationen zum jüdischen Leben in Ingenheim.
Weitere hilfreiche Materialien und Bilder auch unter http://www.alemannia-judaica.de/ingenheim_synagoge.htm (externer Link)